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#weiterschreiben100 – Fiktion

Berlin, 23. März 2020

Autor: Matthias Pieper

Schwarze Kugeln

Blauer Himmel, doch ein Wind so schneidend und stark, dass er Mühe hatte, dagegen anzutreten. Seine Beine waren müde, er spürte bei jeder Pedalumdrehung seine Kniegelenke. Vor zwei, drei Wochen waren die schwarzen Kugeln aufgetaucht, zeitgleich mit der Ausbreitung des Virus. Scheiße, fast wäre er mit einem dieser Dinger zusammengestoßen. Manche bewegten sich auf der Straße mit dem Fluss der Autos, manche trieben über den Bürgersteig, manche standen hier und da in Hauseingängen wie schweigende Geldeintreiber in Anzug und Melone.

Seit einem Jahr fuhr er mit der Thermobox auf dem Rücken mit dem Fahrrad durch die Stadt und lieferte Essen aus. Die orangefarbene Jacke hatte fast dieselbe Farbe wie sein Haar und sein Vollbart, das gefiel den Kunden. Noch konnte er als Essenskurier arbeiten, noch hatte die Regierung keine totale Ausgangssperre angeordnet. Und wenn schon“, hatte Kai gesagt. „Ich verdiene genug für uns beide.“ Das stimmte, sein Freund war Beamter, aber er machte sich trotzdem Sorgen.

Kai sah die schwarzen Kugeln nicht, keiner sah sie außer ihm. Er hatte ihn natürlich nicht direkt danach gefragt, sie hatten über die Epidemie gesprochen, und Kai war ins Reden gekommen, über die endlosen Sitzungen im Ministerium, über die Schwierigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen, so dass die Menschen nicht in Angst gerieten.

Egal, was wir machen, es wird immer Leute geben, die uns genau das ankreiden. Entweder haben wir zu früh gehandelt oder zu spät oder falsch …“ 

Später im Bett wandte Kai sich von ihm ab. Lass mich, ich bin zu müde“, sagte er und rutscht weg, als er sich an ihn kuscheln wollte.

Er hatte wachgelegen und gegrübelt. Irgendetwas Fremdes war zwischen ihnen, seit die schwarzen Kugeln da waren, doch er konnte nicht sagen, was es war.

Der Wind brannte in den Augen, er kniff sie zusammen und öffnete sie wieder. Die Kugeln waren etwa einen halben bis einen Meter groß und tiefschwarz, trotz ihrer glänzenden Schwärze war es, als könnte er hineinschauen, nur dass innen nichts war, und das verursachte ihm Übelkeit.

Er fuhr gerade auf der Bismarckstraße nach Osten, in der Ferne sah er den Engel auf der Siegessäule golden in der Sonne leuchten. Seltsam, dass niemand außer ihm die schwarzen Kugeln bemerkte. Ein Pärchen auf dem Bürgersteig lief einfach hindurch, beide starrten schweigend vor sich auf den Boden, vielleicht hatten sie sich gerade gestritten. Die Kugel veränderte nicht einmal ihre Form, sie war wie schwarzer Rauch, nur viel dichter. Die beiden merken gar nichts, dachte er. Er hatte schon versucht, seinen Therapeuten von früher anzurufen. Vielleicht konnte er mit ihm darüber reden. Doch der war nicht erreichbar gewesen und die Mailbox nahm keine Nachrichten an.

Einmal versuchte er, sich eine schwarze Kugel genauer anzuschauen. Bremste genau vor einer. Den Blick fest darauf gerichtet, starrte er in die Mitte dieser Leere hinein. Ihm wurde schwindlig und etwas übel. Ob es Minuten oder Sekunden dauerte, konnte er hinterher nicht mehr sagen, nur, dass es entsetzlich gewesen war. Er versuchte, Worte dafür zu finden. Was habe ich denn eigentlich gesehen?, dachte er. Mich. Die Welt. Alles, aber wie durch einen Spiegel, dunkel, doch hundertmal deutlicher und klarer. Die Klarheit war kalt und scharf und ließ ihn erzittern.

Seine einzige Erleichterung, wenn man so will, bestand darin, die schwarzen Kugeln einfach zu ignorieren, dann waren sie zwar noch da, schoben sich aber an den Rand seines Gesichtsfeldes oder Bewusstseins und bedrängten ihn nicht, wenigstens für eine Weile nicht. Seit Wochen zermarterte er sich den Kopf, was sie zu bedeuten hätten. Immer wenn er darüber sprechen wollte, fehlten ihm die Worte, oder das Telefon klingelte. Er musste endlich mit Kai darüber sprechen.

Beim Abendessen fasste er sich ein Herz, legte die Gabel mit den Nudeln auf den Teller zurück und schaute auf: Kai sah ihn unverwandt an, sein Blick wurde weich und die dunklen Ringe um seine blauen Augen verschwanden in einem Meer von Fältchen, als er sagte: Ich liebe dich. Wie gut, dass du da bist.

Am nächsten Morgen waren die schwarzen Kugeln verschwunden, genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht waren. Als er erwachte, sich streckte und ans Fenster trat, traute er seinen Augen nicht, er wartete, ob nicht irgendwo welche auftauchten. Nein, sie blieben verschwunden. Er wollte sich zu Kai umdrehen und sagen: Sie sind weg! Doch der war schon aufgestanden und war hinter dicht ihm, er spürte seine Wärme und eine kratzige Wange an seinem Ohr und roch den Duft von Schlaf und von dem, was in der Nacht zwischen ihnen gewesen war.

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