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Leah Hentschel gewinnt Schreibhain-Stipendium

Wir freuen uns ungemein, dass der Wettbewerb um unser Schreibhain-Stipendium im Jubiläumsjahrgang XX auf so enorme Resonanz gestoßen ist! Wir bedanken uns für die rege Teilnahme, die sorgsam ausgewählten Texte und das Vertrauen in unsere Juryarbeit. Auf unserer Shortlist standen zuletzt noch drei Titel (nach Alphabet sortiert):

Böhm, Luise: Krebsnebel

Hentschel, Leah: Die Eishalle

Thiel, Barbara: Überspült

Die Schreibhain-Jury beglückwünscht alle Shortlistnominierten von Herzen. Unsere neue Stipendiatin im Jahrgang XX ist:  Leah Hentschel: „Die Eishalle“. Trommelwirbel und Applaus bitte!

In der Jurybegründung heißt es: „Hentschel zieht ihre Leser*innen vollkommen mühelos in den Kosmos ihres Textes „Die Eishalle“ und mitten hinein in die Erlebenswelt ihrer Ich-Erzählerin. Nebensächlich Wahrgenommenes schichtet sich über familiäre Bande und andere Beziehungen, genauso wie über Sehnsüchte, Untergründiges und scheinbar Banales. Alles steht, gewissermaßen auf gleicher Höhe, nebeneinander. Eben daraus erwächst Hentschels gelungene Komposition. Ihr Sound geht ins Ohr. Die Erzählung kommt leichtfüßig daher, und verführt beinahe beschwingt dazu, den Abgrund zu schauen. Kurzum, Hentschel vermag etwas, das ebenso selbstverständlich scheint wie selten zu finden ist: Sie kann erzählen.

Hier lest ihr den prämierten Text:

Die Eishalle

1

Ich darf nicht in der Öffentlichkeit Sex haben. Speziell in der Eishalle nicht. Das sage ich mir jeden Tag, wenn ich dort in meiner Pommesbude stehe. Ich habe mal gelesen, das ist die Straftat, die am meisten begangen, aber am wenigsten bestraft wird. Man ist ja nicht dumm, man lässt sich ja im besten Fall nicht erwischen, wenn man gerade ehrenlos in Doggy-Stellung auf dem kiesigen Kirchvorplatz durchgenommen wird.

In meiner Bude ist es warm und ölig. Gegenüber sehe ich P. in seiner eigenen Bude, er verleiht die Schlittschuhe und seiner Bude einen ganz bestimmten Charme, er sieht aus, als würde er koksen, obwohl er zur Suchttherapie geht, weil er zu viel kifft. Sein T-Shirt ist schrecklich blau, dieses Blau, dass junge Reiche im Prenzlauer Berg als Schal um ihren yogagedehnten, Bronchitis geplagten Hals tragen. P.s blaues T-Shirt ist ganz kalt, aber es schreit einen auch an. Ich kenne ihn kaum, er ist ein Psycho, wahrscheinlich, oder vielleicht ganz interessant.

Der Boden ist rutschig hinter der Theke und überzogen von einer Fettschicht, auf der ich die drei Meter bis zur Fritteuse schliddern kann. Die Brösel fremder Menschen auf der Theke, die ich gestern eigenhändig nicht weggewischt hatte, widern mich heute nur noch mehr an. Ich wische sie von der metallenen Oberfläche und zähle das Kleingeld in der Kasse, vergesse die Zahlen sofort und es ist mir egal. Ein paar Euros stecke ich mir in die hintere Hosentasche, weil es mir irgendwie zu steht. Der Tag heute klebt jetzt schon an mir wie eine angebrochene Plastikflasche Agavensirup am Regalboden oder der Rest eines Aufklebers, den man nicht abgeknibbelt bekommt.

Dann muss ich ein paar Daunenjacken-Mädchen Pommes rot-weiß machen. “Die Fritteuse braucht noch kurz”, sage ich zu den Mädchen, und als eine von ihnen genervt aufstöhnt, würde ich sie gern am Haarschopf packen, ihr Gesicht unter den Ketchup-Spender halten und den Hebel runterdrücken, immer abwechselnd hin und her zwischen Ketchup, Senf und Mayonnaise, Ketchup, Senf und Mayonnaise, bis ihr das überall rein und wieder rausläuft und sich alle vor ihr ekeln, ganz besonders sie selbst.

 

Das Problem ist, je mehr ich darüber nachdenke, wo ich überall keinen Sex haben sollte, desto mehr möchte ich zu P. gehen, und ihn fragen, ob ich nach Frittierfett rieche, und ihm ein bisschen zu nahekommen. Ich will aus meiner Einsamkeit ausbrechen und mir seine von innen ansehen.

Ich bin nicht ganz sicher, ob die angesehene Art von sexueller Selbstbestimmung ist, einen unbefriedigenden Quickie mit einem Mann, den ich kaum kenne, zu schieben, einfach so. Aber ich würde gerne, ich würde gerne alles, was mich einengt soweit ausdehnen, bis irgendetwas reißt und die richtige Freiheit auf mich drauf tropft. Männer baden jeden Tag in dieser Freiheit, sie zünden sich heimlich eine Duftkerze dabei an und nennen sie Gleichberechtigung, aber in Wirklichkeit teilen sie immer noch alle Frauen in prüde oder heiß ein, etwas dazwischen gibt es nicht. Sie würden es ein bisschen zu dreckig von mir finden, auch wenn sie es ja heutzutage nicht mehr sagen, sie denken es trotzdem. Ich sehe es auch in den Gesichtern meiner Freundinnen, die sich gegenseitig mit krassen Sex-Geschichten übertrumpfen wollen, dabei aber die unrühmlichen Details weglassen. Also zum Beispiel, dass man gar nicht weiß, ob man die Sache mit dem sich in den Mund spucken wirklich so gut findet. Oder dass man quasi nichts gefühlt hat. Oder dass man mit den nackten Knien auf dem klebrigen Boden in undefinierbaren Flüssigkeiten dauernd abgerutscht ist, nur um danach auf der inneren Checkliste den Blowjob auf der Clubtoilette auch abhaken zu können. Sie finden es mutig von mir, aber sie verachten es auch, wenn ich diese Details erzähle. Wow, haha, ne, ich meine ja nur, krass dass du das einfach so erzählst. Ich will gar nicht mutig sein, ich will nur die Dinge erzählen, so wie sie wirklich waren, und nicht, wie sie in einem New Adult Roman beschrieben werden.

Ich sollte ehrlicherweise echt aufhören, über die Sexsache nachzudenken, aber ich habe keine Pläne für den weiteren Verlauf dieser Schicht. Ich mache den Daunenjacken ihre dummen Pommes. Ich schmeiße einen dreckigen Lappen in den Müll. Ich sehe ein Reel auf Instagram über ein Work-Out, dass ich wirklich nie, nie, niemals machen werde. Mein Vater ruft an, er ruft sonst nie an, ich drücke ihn weg.

Ich habe keine Pläne für die Schicht, und keine Pläne für den Tag, und keine Pläne für die Woche, und keine für das ganze Jahr, und keine Pläne haben als Frau in Berlin bedeutet, man ist langweilig. Nichts tun heißt, man verpasst etwas, und wenn man total okay damit ist, alles zu verpassen, dann stimmt etwas mit einem nicht, dann kann man ja auch direkt aufs Land ziehen. Erstmal sollte man normal sein und sich Termine machen, um nicht so zu wirken, als wäre man erschöpft vom Freizeitangebot dieser Stadt. Man kann seine Termine ja doch noch spontan absagen, mit der Ausrede, man müsse Me-Time machen, was weniger langweilig und mehr so klingt, als hätte man gerade ein Buch über das innere, dumme Kind gelesen. Ich brauche Me-Time, gerade spontan gemerkt, ah, Entschuldigung, und das nächste Mal kann ich leider wieder erst in drei Monaten, weil, naja, du kennst es ja, ich habe Freizeitstress, Freizeitstress, Freizeitstress.

 

Mein Vater ruft wieder an. Ich fülle gerade das Ketchup nach und klemme mir das Telefon zwischen Schulter und Ohr. „Hallo?“, frage ich, ich habe keine Ahnung, wie ich mit meinem Vater sprechen soll, er lebt ein anderes Leben als ich, inzwischen, es ist gut möglich, dass er gerade einen ZDF-Mehrteiler sieht, weil das seine Art des Eskapismus ist, oder er gerade eine große Runde Rennradfahren ist, ganz allein. Ich würde ihm gerne erzählen, dass ich einsam bin in dieser Stadt, weil ich keine Freundin habe, die ich spontan treffen kann, wir wohnen alle in derselben Stadt, aber keiner hat Zeit, doch er würde mein Problem nicht verstehen, er würde sagen, tja, hm, dann mach dir doch daheim einen schönen Abend.

 

„Hallo“, sagt mein Vater, „ich wollte nur sagen, dass Grobi gestorben ist, leider.“ Grobi ist mein Hund, seitdem ich zehn Jahre alt bin, und ich liebe ihn, aber ich habe ihn bei meinen Eltern gelassen, weil jedes normale Lebewesen einen großen Garten geiler findet als das vollgeschissene Neukölln.

Ich stehe in der Eishalle und blicke übers Eis und mein Hund ist tot. Ich bin froh darüber, in dieser einengenden Stadt einen Ort zu haben, an dem man weiter als zehn Meter blicken kann, zumindest bis zur gegenüberliegenden Tribüne oder zu P.s blauem Shirt, das mich immer noch anschreit. Scheiß drauf, sieht ja keiner, dass ich einsam bin. Und obwohl ich später wieder gefangen sein werde, in dieser Stadt und meiner Einsamkeit, und die Häuserblocks mit leerstehenden Wohnungen mit leeren Augen auf mich hinabblicken, gehe ich rüber zu P., mit fettigen Händen und einem toten Hund, um mir seine Einsamkeit von innen anzusehen.

 

2

Grobi war ein wirklich enorm hässlicher Hund. Als mein Vater meiner Mutter damals erklärte, dass die Sache mit dem Schulhund in seiner Klasse gescheitert war und er ihn ja schlecht einem seiner Schüler mit nach Hause geben konnte, während Grobi selbst nervös auf unseren Teppich schiss, musterte ich ihn hinter meiner Geolino-Zeitschrift, die ich eigentlich furchtbar langweilig fand, und fand ihn wirklich sehr hässlich. Ich hatte den Gedanken, dass er im September nach den Sommerferien ja vielleicht plötzlich ein schöner Rüde wird, so wie Jonathan zwei Klassen über mir. Der war auch hässlich gewesen, und nach den Ferien kam er plötzlich groß und schön zurück.

Das denke ich, während ich in der U-Bahn zum Hauptbahnhof sitze und versuche, statt in ein fremdes Gesicht, in mein Handy zu glotzen.

Ich scrolle zum letzten Bild, dass ich von Grobi habe. Mein Vater sitzt neben ihm, eine Hand auf seinem Nacken, und guckt sanftmütig auf ihn herab, die andere Hand hält eine Kaffeetasse. Das war das absolut Beste gewesen: Ein paar Jahre später in meiner vermutlich depressionsbedingten Faulheit neben meinem Vater und Grobi auf der Couch zu sitzen und Fernsehen zu schauen. Ich vergötterte meinen Vater dafür, diesen Hund aufgenommen zu haben, der so unfassbar hässlich war. Ich dachte, wer so einen hässlichen Hund aufnimmt, muss ein guter Mensch sein.

 

Am Hauptbahnhof ist wie immer ein bisschen zu wenig los, um den Bau des verwirrenden mit Fressketten vollgekleisterten Monstrums zu rechtfertigen, zu wenige Leute warten an den zwanzig Kettenbäckereien, um eine maximal angemessen schmeckende Aufbackbrezel zu kaufen. Wie jedes Mal suche ich nach meinem Gleis, obwohl es immer das Gleiche ist, und wie jedes Mal denke ich mir, dass das der Beweis dafür ist, dass ich meine Eltern zu wenig besuche.

Ich brauche drei Stunden bis zu der Kleinstadt, in der ich zum ersten Mal besoffen in der Öffentlichkeit gekotzt habe. In den drei Stunden höre ich zwei Podcastfolgen und werde dabei immer nervöser. Ich gehe dreimal auf die Toilette und schaffe es demnach dreimal irgendetwas anzufassen, was ich nicht anfassen wollte und ärgere mich danach, dass der Wasserhahn nicht funktioniert. Ich höre zwei Frauen in meinem Alter ungläubig dabei zu, wie sie über ETFs sprechen, trinke einen schwarzen Kaffee und habe dann fast eine Panikattacke, und weil mir dann wirklich gar nicht mehr zu helfen ist, lade ich mir eine Meditationsapp runter. Es wird sicher komisch sein, so ohne Grobi, zu Hause. Oder eben dort, wo ich aufwuchs.

 

Kurz bevor wir da sind bin ich also eigentlich völlig am Ende. Aber das ist sicherlich normal, denn so ist das, man fährt nach Hause, und Berlin verlässt den Körper, Berliner Selbstsicherheit ist nämlich nicht die gleiche Selbstsicherheit, die man für das echte Leben mit echten Menschen braucht.

 

Ich laufe durch die Bahnhofsvorhalle, in der es jetzt einen Yormas gibt, und erspähe draußen das Auto meines Vaters. Während wir fahren, übernehme ich die Kontrolle im Gespräch, so wie immer. Hinten auf dem Rücksitz liegt die leere, dreckige Hundedecke, auf der Grobi sonst lag. Ich erwische meinen Vater ein paar Mal dabei, wie er durch den Rückblick nach hinten blickt, und dann einen kurzen Moment der Verwunderung im Gesicht hat, bevor ihm einfällt, dass Grobi tot ist.

„Ich wollte ja eh mal fragen, wie das Studium so läuft“, fragt er. In meinem Magen schwappt der letzte Rest Berlin wie Suppe, und mir ist übel.

Vita

Hentschel studierte im Master Angewandte Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und arbeitete nebenbei als Werkstudentin im Marketing von Studiocanal. Während ihres Studiums gab sie gemeinsam mit Kommiliton*innen die Edition fortississimo heraus, um jungen Autor*innen eine Plattform zu geben, absolvierte ein Praktikum in einem Kinderbuchverlag und arbeitete im Kulturkaufhaus Dussmann in der Belletristik-Abteilung. Vor langer Zeit korrigierte sie sogar die Texte eines Dichters in ihrer Heimatstadt – das dachte sie jedenfalls, bis ihr auffiel, dass er sie eher dafür eingestellt hatte, auf seine extrem pubertierende Tochter aufzupassen. Bei einem Kurzfilmprojekt der Uni Leipzig/Halle/Merseburg hat Hentschel das Drehbuch mitgeschrieben und im Tagesspiegel Artikel veröffentlicht. Sie war Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens. Seitdem arbeitet sie an ihrem Debütroman und ihrem ersten eigenen Drehbuch.

Letztens fand Hentschel eine alte Box mit Gedichten, Songs, Kurzgeschichten oder einfach nur seitenlangen Auflistungen von Dingen, die sie noch erleben will (mit vierzehn war das sowas wie auf eine Schaumparty gehen, jetzt, mit achtundzwanzig: genug Geld haben, um mal bei Uber Eats zu bestellen). Das, was sie damals noch auf Papier brachte, ist jetzt in ihrem Handy oder auf ihrem Laptop, eingetippt auf U-Bahn-Fahrten (weil sie da immer besonders viel wütend macht), in schlaflosen Nächten oder wenn sie eigentlich eine Hausarbeit schreiben sollte. Es sind so viele angefangene Skripte, dass sie Anxiety bekomme, wenn sie nur daran denke. Es sei komisch, sie hinterlasse Chaos beim Schreiben, sowohl in ihrem Computer als auch in ihrer echten Wohnung – dabei räumt das Schreiben etwas in ihr auf, von dem sie oft gar nicht mitbekommt, dass es unordentlich ist.

In der alten Box hat Hentschel folgende Notiz von ihr gefunden: Ich greife nach dem Mond und greife ins Nichts / Ich greife nach der Schere und schneid mir ins Gesicht. Sie war elf, als sie das schrieb, und hätte ein Erwachsener es gelesen, hätte man sie vielleicht gefragt, ob alles in Ordnung sei. Dabei wusste sie lediglich damals schon, was sie mit ihren Texten will: Aufrühren, schlimm und rotzig sein, laut und eklig und ehrlich.

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