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#weiterschreiben100

23. März 2020

C.S. Garraway

Miniaturen.


I.
Sie ist immer da.
War sie immer.
Inzwischen trägt sie die Haare kirschrot; der Schnitt ist noch
derselbe, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnere. Auch
Brille und Ohrring im linken Ohrläppchen haben sich in den letzten
zwanzig Jahren nicht geändert.
Sie sitzt an der Kasse bei Rossmann, so lange ich denken kann. Die
Filiale, in der ich bei ihr mein erstes Deo bezahlte, gibt es
inzwischen nicht mehr. Wegrationalisiert. Sie ließ sich nicht
kürzen. Filiale Nummer drei, in der sie jetzt sitzt, ist hell und
modern. Am Ausgang stehen SB-Kassen, die mir aus der Schweiz gut
vertraut sind, aber in Deutschland einfach nicht funktionieren.
Daneben sie. An einer der klassischen Kassen.
Ihre eingerauchte Stimme grüßt jeden.
Wie immer.
Ich bin gegangen und wiedergekommen.
Umgezogen und heimgekehrt.
Und wenn ich etwas brauchte oder etwas neues wagte, bei ihr
bezahlt.
Kaltwachsstreifen.
Rasierer.
Tampons.
Abführmittel.
Kondome.
Haarfarbe.
Ich frage mich, ob sie sich merkt, was die Kunden über die Jahre
zusammenstottern. Viele Namen kennt sie, weiß, wer gestorben oder
umgezogen ist. Sie spricht Trost aus und muntert auf.
Immer.
Auch jetzt.
Die Welt dreht durch und muss doch anhalten. Niemand weiß, wie es
weitergeht. Ob und wann.
Aber sie macht weiter.
Wie immer.
Heute ist ihr Geburtstag, aber niemand weiß davon. Es ist
irrelevant. Für den Laden war es das immer. Für die Welt heute
einmal mehr.
Als ich sie freundlich grüße, kurz zögere und mich traue, ihr
„Danke“ zu sagen, hält sie im Kassieren inne. Sie sieht mich an
und lächelt. Sie nickt. Mehr braucht es nicht.
Dann macht sie weiter.
Wie immer.

II.
Eine umzäunte Wiese am Rande des Dorfes. Ein Dorf, das im Namen
ein „Groß“ trägt, in Abgrenzung zum „Klein“ zwei Kilometer weiter,
aber eigentlich auch nicht mehr als eine zufällige Ansammlung an
Häusern ist.
Auf der Wiese stehen ein Unterstand, eine Heuraufe, drei kleine
Gartenhäuschen und sechs Pferde.
Zwei davon heben den Kopf, als wir mit dem Auto direkt vor dem Tor
halten. Es ist sonnig, warm. Die Luft riecht süß und schwer nach
Mist und Liebe wie früher, als wir noch jeden Tag Zeit für die
Pferde fanden. Wir satteln die Tiere schweigend, haben auf der
zwanzigminütigen Fahrt die Tagespolitik auseinandergenommen und
versucht, weiter gute Laune zu haben. Schließlich aufgegeben.
Der Haflinger prustet freundlich, als ich ihm den Sattel auf den
Rücken lege. Sein Kollege ist fast doppelt so groß, aber
vollkommen gleichgültig gegenüber seinem eigenen Sattel. Mit
hängender Unterlippe wartete er darauf, dass wir fertig werden,
die Helme zuschnallen und uns auf die Rücken der Pferde gleiten
lassen.
Es braucht zwanzig Minuten und zwei Galoppstrecken, bis wir wieder
miteinander sprechen.
Lachen.
Albern.
Atmen.
Und leben.
Wir setzen uns im Damensitz seitlich in den Sattel, strecken die
Beine von uns und den Pferdekörpern und lachen uns gegenseitig
aus.
Die Häuser der Dörfer verschwinden hinter den Bäumen des Waldes.
Es gibt nichts mehr als uns beide und die treuen Pferde unter uns,
die langsam zu dampfen beginnen, aber eifrig durch das Dickicht
stapfen und wieder und wieder lospreschen.
Irgendwann stoßen wir auf eine Landstraße und treten den Rückweg
an.
Leere.
Nirgends irgendjemand, den unser schlechter Humor und das laute
Lachen stören könnte. Sollte es die Pferde stören, lassen sie sich
nichts anmerken.
„Vorsicht!“
Ich sehe mich um.
Eine alte Frau läuft uns alleine entgegen.
Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass ich nicht vorsichtig
sein soll, weil mein Pony vor einer Nachbarin scheuen könnte,
sondern weil diese Nachbarin uns gefährlich nahe kommt und mich
mit Dingen anstecken könnte, die ich nicht brauche.
Das hatte ich vergessen.
Tatsächlich alles kurz vergessen.
Es dauert nur Sekunden, bis alles wieder da ist.
Wir schweigen wieder. Grüßen die Frau nur mit einem Winken.
Im Auto schalten wir das Radio an und sprechen nicht weiter.
Es kommen die Nachrichten.

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