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#weiterschreiben100 – Dokumentarisches

 

Burgdorf in der Schweiz, 18. März 2020

Eine neue Dimension

Autorin: Bettina Gugger: bettinagugger.wordpress.com

Vor uns liegt ein Haufen leerer Zeit, Zeit, die wir totschlagen können, Zeit die wir mit Dingen füllen dürfen, die uns Spaß machen; lesen, malen, kochen, stricken, lauter unwirtschaftlicher Dinge, denn die Wirtschaft hat dicht gemacht. Zeit, die an keinen Plan gebunden ist – jedenfalls kennen wir ihn nicht. Ganz plötzlich wird uns diese Zeit wie ein Geburtstagsgeschenk überreicht: „Bitteschön, anbei ein Monat Zeit, einzige Einschränkung, ihr müsst zu Hause bleiben und könnt nicht mehr dem Konsum frönen.“ Und ganz nebenbei suggeriert das Geschenk, dass wir auch künftig unsere Tage so verbringen könnten. Entschleunigt. Physikalisch gesprochen misst die Zeit die Bewegung im Raum. Was aber, wenn sich die Bewegung und der Raum plötzlich verändern? Dann muss sich auch die Zeit ändern. Wir betreten gerade eine neue Erfahrungsdimension.

Einzig die Menschen in der Pflege, im Detailhandel, die Postangestellten und Tankwarte werden später belohnt. Auch dem Militär kommt im Moment eine tragende Rolle zu. Auf sie kommt es jetzt an. Sie sind systemrelevant.

Bist du systemrelevant?

Wir mit unserer Schreiberei sind überhaupt nicht systemrelevant. Niemand stirbt an Phantasielosigkeit und Verblödung. Aber vielleicht können wir den einen oder die andere zu einem neuen Gedankengang ermuntern, schließlich sind die Wege unseres Gehirns unergründlich. Vielleicht können wir etwas von unserer Hoffnung schenken, die wir in all den einsamen Stunden allein mit unseren Gedanken und der brotlosen Existenz angesammelt haben. Zur Erdung inspirieren, da wir auch mit dem Wahnsinn vertraut sind: Tief durchatmen, die Socken spüren, an die Sonne gehen, denn sie scheint noch! Und Vitamin D ist fundamental wichtig für unser Immunsystem. Also raus mit euch, sammelt euch, aber versammelt euch nicht. Das nur noch am Fenster. Putzt eure Fenster, manikürt die Nägel, beobachtet den Himmel.

 

Meine To-do-Listen sind luftiger geworden:

-Spinnweben entfernen

-Unterwäscheschublade aussortieren

-Graue Haare auszupfen

-meine Hilfe anbieten

-Briefe schreiben

-mich auf ein bedingungsloses Grundeinkommen freuen

-ins Vertrauen gehen (Was für ein schöner Ort! Wo die Vögel zwitschern, die Bäche rauschen und Mozart wohnt)

meditieren

-mich für eine Ausbildung anmelden

Wie durch ein Wunder, das in Gestalt eines Grippe-Virus‘ daherkommt, der sich in der Gefährlichkeit besonders durch sein hohes Ansteckungspotential auszeichnet, wurde die kognitive Dissonanz aufgelöst: Der tägliche Widerspruch zwischen den Dingen, die getan werden mussten, in und für ein System, das krank, korrupt und satanisch war und einem Glauben an das Gute im Menschen.

Es ist, als ob wir plötzlich aus dem ganzen Wahnsinn rausspazieren können, auch wenn wir im Moment noch in unseren Wohnungen festsitzen, unser Geist leert sich, reinigt sich, der mediale Müll entlarvt sich selbst, unsere Herzen beginnen wieder nach unserem eigenen Rhythmus zu schlagen. Wem wollen wir dienen? Einer Geldmaschinerie, die einige wenige reich und uns zu Sklaven macht? Oder wollen wir uns viel mehr gegenseitig dienen und all den Scheiß, all den Schrott der Billigwarenwelt und den Müll der Unterhaltungsindustrie, endgültig als der Verdummung dienende Illusion verabschieden. Nur das Schöne und das Gute hat in der Krise Bestand. All der Schmutz und Schutt wird nun offenkundig. Und wer baut sein Haus auf einer Müllhalde?

Ansehen, Macht und Geld, das hat alles in der Krise keinen Wert. Kreative Lösungen, Flexibilität und Nächstenliebe sind jetzt gefragt. Gerade die Nächstenliebe hat man versucht aus unserem Wortschatz zu streichen. Aber das Social Distancing macht deutlich, wie sehr wir einander brauchen. Alleinsein ist schön, Isolation aber macht traurig und krank.

Viel zu lange waren wir abgetrennt voneinander, jeder mit seinen Sorgen und Nöten beschäftigt, künstlich in Gruppen gespalten, in Wortgefechte verstrickt, einzig im Hass noch lebendig. Den meisten ging es zu gut, um das Spiel zu durchschauen, abgelenkt von Brot und Spielen.

Der Mensch ist aber auf Krisenzeiten eingestellt. Niemals reagiert er besonnener und solidarischer, als wenn sein Überleben auf dem Spiel steht. Jeder der einmal in einer lebensbedrohlichen Situation war oder jemandem in einem solchen Moment beistand, hat diese Erfahrung gemacht, dass etwas in uns einen kühlen Kopf bewahrt, und wir auf Autopilot genau das Richtige tun.

Panik entsteht nur dort, wo die Emotionen Regie führen, und wir versuchen, vor der Angst davon zu laufen. Daher hamstern Leute aus Angst sich in die Hosen zu machen Unmengen von Klopapier. Anstatt einen kühlen Kopf zu bewahren, und sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass man seinen Po auch mit Wasser und einem Handtuch sauber bekommt. Wer so in seinen Emotionen gefangen ist, dem geht der Arsch auf Grundeis und ist dazu aufgerufen, sich endlich mit der Scheiße auseinanderzusetzen (um einmal sehr bildlich zu sprechen).

Unsere innere Stimme wird uns den Weg weisen. Sie wird nie der Hysterie zum Opfer fallen – und sie wird uns auch nicht dazu überreden, das Unvernünftige zu tun. Und darauf kommt es jetzt an, diese Stimme wieder zu finden, und auf sie zu hören.

 

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