Suche
  • Autorenschule Berlin
  • + 49 (0)177 3216298
Suche Menü

#weiterschreiben100

Brandenburg, 18. März 2020 

Harmlos

Autorin: Jessica Potthast

Harmlos. Ein beruhigendes Wort. Ich denke an Deine harmlose Erklärung auf meine Frage, warum Du noch nicht bei mir bist. Du warst gefangen im Stau unserer Stadt, in dem jeder von uns ein Insasse ist. Die winzigen, weißen Kügelchen, die ich meiner Schwester gegen die zermürbende Übelkeit in ihrer Schwangerschaft empfehle, sind harmlos. Ich rauche täglich genau fünf Zigaretten. Fünf ist meine Glückszahl und meine Ärztin sagt, die Menge ist ungefährlich. Ist Harmlosigkeit die Abwesenheit von Gefahr? Ein Jemand ohne böse Hintergedanken? Bin ich harmlos?

Das große C wird in einer anderen Welt geboren und ich bin beruhigt in meiner zu sein. Doch in meinem Kopf wabern jetzt Bilder von erschöpften Menschen, die keine Nerven mehr haben und die verzweifelt ihre Not in die Dunkelheit schreien. Es gibt Mütter, die ihre kranken Kinder nicht versorgen können, weil sie hinter eine Schranke gesperrt sind, die panisch versuchen Menschen in weißen Anzügen zu bestechen oder an ihr Herz zu appellieren. Die Masken bleiben starr. Jemand wird das Virus stoppen, ganz sicher. Die Regierung sagt, die Folgen der Erkrankung sind so harmlos wie eine Erkältung. Die Zeitung schreibt von 3230 Toten.

Es gibt so schnell kein Gegenmittel.

Länder haben ihre Zugbrücken hochgezogen, an denen es schon längst keine Gräben mehr gab. Eine harmlose, sehr effektive Sicherheitsmaßnahme, sagen Expertenmenschen. Niemand will trojanischen Pferden Einlass gewähren. Kein zweites 2015, dröhnt es von den rechten Rängen. Das Echo schlägt uns ins Gesicht. An Außengrenzen brennen Lager und Babys kommen im Schlamm zur Welt. Ein Neunjähriger, der keinem Blick mehr standhalten kann, zeigt auf einen Strick an einem Baum. Es hat nicht funktioniert, sagt er. Der Kameramann atmet schwer. Der Junge weint. Hier gibt es keinen Virus, nur das wuchernde Geschwür der Unmenschlichkeit.

In Berlin dürfen wir jetzt im Homeoffice arbeiten und können sogar Monitore mit nach Hause nehmen. Vorher müssen wir eine E-Mail verfassen mit der Seriennummer des Geräts, damit niemand denkt wir würden stehlen. Alles harmlos. Mütter können endlich zeitgleich arbeiten und mit ihren Kindern basteln. Nachts wenn Ihnen die Tränen kommen wollen, drängelt sich ihre Müdigkeit vor. Im Netz findet eine Aufrechnung aller Leiden statt. Glück ist, wenn das Pech die anderen trifft.

Auf WhatsApp gibt es Statusbilder mit markigen Sprüchen, die vor langer Zeit einmal lustig waren. In der U-Bahn treffe ich eine Frau, die einen Bürostuhl in ihre Wohnung transportiert, da sie nur so die ergonomischen Arbeitsplatzanforderungen einhalten kann. Ich schleiche im Edeka um den Weichspüler und traue mich nicht Klopapier zu kaufen. Unsere Moral messen wir jetzt in weißen Blättchen. Vor dem Laden steht ein Mann mit Atemmaske. Ich lächle ihn an. In schweren Zeiten soll man zusammenhalten. Er schiebt die Maske zur Seite und steckt sich eine Kippe an. Ich will ihm die Zigarette aus dem Mund schlagen und ihn anschreien. Ich bin nicht harmlos.

Jemand schickt mir einen Link zu einem YouTube Video: Irgendwer berichtet von einem Virus der absichtlich gezüchtet wurde, um die Wirtschaft anzukurbeln. Influencer wollen mich mit Tipps zur Freizeitgestaltung unterhalten. Sie schlagen mir vor zu putzen oder endlich einmal ausgiebig zu baden. Ansonsten bliebe mir noch an meinem Mindset zu arbeiten. Die Situation ist unter Kontrolle solange es noch Rabattcodes und Nudeln gibt. Wir zählen jetzt 7166 Tote.

Alles harmlos.

Meine Schwägerin ist systemrelevant, mein Bruder auch. Ihre kleine Tochter ist von größter Relevanz, doch ohne Betreuung. Eine Krise ist eine Krise und das bedeutet Einschränkung. Das muss doch mittlerweile der Dümmste verstanden haben, schreien uns die Überschriften in Zeitungen an. Niemand spricht noch von Harmlosigkeit.

Du warst bei der Vorsorge und Dein Arzt hat Dich beruhigt. Ein winziger Schatten. Vermutlich harmlos.

Du hast den Krebs überlebt. Ich denke an die leeren Straßen, durch die ich mit Dir tanzen will, im Frühling, jetzt, sofort! In Arglosigkeit. Die Magnolien, die bereits zart blühen, sollen auf Dich regnen und deine weiße Haut als Leinwand nutzen. Das Pflaster, die Stadt, das Draußen soll Deine Bühne sein.

Ich lasse Dir Blumen schicken in allen Farben, die dich das Leben sehen lassen. Im Traum schmiegen wir uns an die ungewaschenen Wangen.

Die Welt ist nicht harmlos.

Sie schnappt nach uns, kaut gierig auf uns herum wie mein Hund an seinem Knochen. Wir werden verschluckt und wieder ausgespuckt. In klebrigem Etwas ringen wir um Luft.

Wir erinnern uns an Liebe und hoffen auf Wiedergeburt.

Sicher teilen mit den neuen Shariff-Buttons für mehr Datenschutz!
Wir benutzen Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit der Webseite zu verbessen. Durch deinen Besuch stimmst du dem zu.