Suche
  • Autorenschule Berlin
  • + 49 (0)177 3216298
Suche Menü

#weiterschreiben100 – Fiktion

Berlin, 19. März 2020

Berlin, 19. März 2020

Autorin: Cornelia Jönsson

Die Insel

M: Guten Morgen du Schöne!  Ich bin sehr glücklich gerade. Meine Welt besteht aus den verschiedensten Blau- und Grüntönen, es riecht nach all den blühenden Sträuchern, den vielen Kräutern und nach Salz und Algen, abends zudem nach Olivenöl, Knoblauch und dem schweren Parfum der älteren Frauen. Ich schwimme jeden Tag eine Stunde, nachmittags wandern wir in den Bergen und abends essen wir Muscheln oder Hummer. Es ist nicht gerade still hier – das Meer rauscht ständig, Auspuffe knattern, abends zirpen die Grillen und ständig läuten Kirchglocken. Trotzdem ist es ruhig, wenn man von Jens absieht. Wie geht es Dir und der Agentur?
Viele Grüße von der Insel!

S: Guten Abend du Schöne! Ihh, Hummer! Etwa selbst gekocht? Hört sich schön an bei Dir! Wie läuft es denn mit Jens? Hier in der Agentur stressig wie immer, der Gierschlund nimmt zu viele Aufträge an und wir baden es aus. Bist Du sicher, dass du zurückkommen willst?  Lass es dir gutgehn! Weiterbaden! P.S.: Gibt es nicht Corona bei euch?

M: Guten Morgen du Schöne! Ach, Jens mäkelt an allem rum, zu heiß, zu sandig, zu windig, zu fettig, zu laut, zu ruhig. Naja, Entspannung braucht Zeit. Den Hummer habe ich natürlich nicht selbst gekocht. Es gibt hier diese alten Männer, deren gelbe Gummi-Overalls abends in der Dunkelheit leuchten, wenn sie in ihren kleinen, alten Kuttern vom Meer zurückkehren. Dann laufen die Kellner runter an den Kai, nehmen eine Kiste mit wuselndem Krustentier entgegen und 30 Minuten später gibt es Pasta mit Hummer. Lass dich nicht ärgern in der Agentur! Ich will überhaupt nicht zurückkommen, aber ich muss ja, um dich zu unterstützen! Corona gibt es nur auf dem Festland, hier trinken wir das bloß manchmal aus der Flasche. Prosit!

S: Guten Abend Du Schöne! Ach, das klingt alles wunderbar, was du beschreibst, ich beneide dich! Hier ist es so stressig, Meeting jagt Konferenz jagt Deadline. Mit dem Fitnesstudio bin ich nur noch über mein Bankkonto verbunden und man sieht es mir an. Immerhin, Freitag feiert meine Schwester ihren Dreißigsten im großen Stil und Samstag dann endlich das Konzert. Ich hoffe, Jens kommt langsam im Urlaub an. Lass es Dir gutgehen!

S: Guten Abend Du Schöne! Sag mal, ist noch alles gut bei Dir? Die Nachrichten sind ja doch beunruhigend…

M: Guten Morgen Du Schöne! Alles gut. Jens ist jetzt auch auf der Insel und bei mir angekommen, wir haben sogar wieder Sex, und zwar intensiv und oft und nicht nur im Bett.  Welche Nachrichten meinst Du?

S: Na, Corona.

M: Nix weiter gehört. Versuche mich in Digital Detox.

M: Guten Morgen! Irgendwie gehen gerade keine Flüge von der Insel, haben jetzt einen Flug vom Festland gebucht, dann kommen wir aber erst Sonntag Abend an. Ich glaube, ich melde mich Montag krank, das ist mir sonst zu hektisch.

S: Guten Abend! Da werden die Leute alarmiert sein, wenn Du Dich nach der Rückkehr krankmeldest, hier macht man sich langsam Sorgen, Urlaubsrückkehrer stecken zu Hause Gebliebene an. Heute gab es im Supermarkt kein Klopapier und keine Nudeln.

M: Guten Morgen! Verrückt. Hier gibt es viele Nudeln. Aber selbstgemacht. Die Menschen hier wissen, was wichtig ist im Leben. Ich genieße die letzten sonnigen Tage in vollen Zügen … bis bald!

M: Guten Morgen! Der Flug vom Festland wurde auch gestrichen, komme zwei Tage später an, melde mich für die Zeit krank.

S: Guten Abend! Pass auf Dich auf!

M: Es fahren keine Züge mehr zum Flughafen. Was mach ich denn jetzt?

M: Habe noch mehr Urlaub beantragt.

M: Der Flug wurde schon wieder gestrichen.

S: Bei uns gibt es kein Klopapier mehr. Und keine Nudeln. Ich muss die ganze Zeit Gemüse essen.

M: Die Fähre fährt nicht mehr.

S: Wir machen jetzt Homeoffice! Jackpot!

M: Ich habe nun meinen gesamten Jahresurlaub genommen. Seis drum. So tiefenentspannt war ich lange nicht mehr und so glücklich mit Jens.

S: Guten Abend du Schöne! Wie geht es dir? Die Welt verdüstert sich.  Alle Feiern werden abgesagt, keine Kultur, keine Cafés und beim Arbeiten von Zuhause fällt mir die Decke auf den Kopf.

M: Guten Morgen du Schöne! Das tut mir leid! Halte durch! Ich bin heilfroh, auf der Insel zu sein! Jens und ich sind beide tiefbraun, wir schwimmen wie Fische und klettern wie Ziegen durch die Berge. Abends machen wir selbst Pasta auf dem groben Steintisch im Garten, dazu gibt es frisches Gemüse aus unseren Beeten und Meeresfrüchte vom Hafen. Dann ist der Tag auch schon wieder vorbei. Ohne Hektik, ohne Anspannung. Einfach: Gemeinsames Essen, Bewegung in der Natur. Sex. Viel und langsam. Ich weiß nicht, ob ich jemals wieder anders leben kann.

S: Guten Abend du Schöne! Genieße deine Zeit. Ich habe gehört, die deutsche Regierung holt euch bald heim. Die Aufträge gehen zurück, alle machen sich Sorgen ums Geld. Ich benutze Wattepads statt Klopapier. Nie war Single sein einsamer.

M: Guten Morgen du Schöne! Es tut mir leid, dass ich so selten schreibe, wo du scheinbar immer isolierter bist. Hier fühlt sich Zeit einfach anders an, weich und wie etwas, das dich trägt, nicht wie die Zeit in Berlin, die wir mit unseren Pfennigabsätzen in handliche Stückchen zerhacken, um dann gleich mehrere davon auf einmal zu verschlingen. Wir haben das Haus gekauft. Es ist klein, hat keine Heizung und kein warmes Wasser, aber der Garten ist fruchtbar und das Meer in Sichtweite. Wir werden unseren Jahresurlaub künftig immer hier verbringen.

S: Ich wurde gekündigt!

M: Ich auch!

S: Ich verliere gerade alles: Meine Haut ist hart von lauter Unberührtheit und Desinfektion, ich werde dick ohne Bewegung und dumm ohne Kultur, meine Miete kann ich nur noch zwei Monate zahlen, ich distanziere mich von Freunden, die sich gegenseitig in den sozialen Medien beschimpfen, andere rufen nicht mehr an aus Angst, das Virus durch die Leitung zu übertragen. Meine Schwester wohnt jetzt im Krankenhaus. Sie schläft nur manchmal auf dem Schreibtisch, wenn der für ein paar Minuten frei ist. Die Pfleger teilen sich die Essenswägen für ihre Nickerchen. Meine Eltern sind gestorben. Mir war gar nicht klar, wie wichtig sie mir waren. Es gab keine Feier, wir feiern keine Beerdigungen mehr, seit dabei so viele Menschen krank wurden. Ich verliere alles.

M: Guten Morgen du Schöne! Oh nein, das tut mir so leid! Kannst Du nicht irgendwie versuchen, zu uns zu gelangen?  Die Regierung hat uns noch nicht geholt, aber jetzt, wo wir beide gekündigt wurden, möchten wir auch gar nicht mehr zurück. Es ist gut hier, der beste Ort vielleicht gerade. Kein Theater, keine Clubs, aber Künstler und Bars gibt es hier auch, feine Boutiken – und vor allen Dingen die Natur! Ein alter Fischer, der in der Nachbarschaft wohnt, ist gestern leider verstorben, wir erstatten der Familie einen Kondolenzbesuch, sobald der Obstkuchen fertig ist, es duftet schon warm aus der Küche.

S: Ich kenne niemanden mehr. Die Welt löst sich auf. Ich bin allein. Bald obdachlos.

M: Schöne! Das wird nicht passieren! Schick mir deine Paypaldaten! Komm her! Hast Du schon Arbeitslosengeld beantragt?

S: Oh. Es gibt jetzt ein bedingungsloses Grundeinkommen. Einfach so. Ohne behördlichen Aufwand, da alle Behörden geschlossen haben. Die Mitarbeiter der Behörden leben dann künftig auch von dem Grundeinkommen.

M: Alle Fischer sind gestorben!

S: Dann ist der Virus auch bei euch. Das mit dem Grundeinkommen stimmt wirklich. Alle bekommen das. Die Angst ist weg. Am liebsten würden wir vor Freude auf der Straße tanzen. Wir jubeln stattdessen aus den Fenstern und kippen Flaschenweise Sekt, hoffentlich kommt der Versandhandel mit dem Sekt schneller hinterher als mit dem Klopapier. Man braucht übrigens keines, hat sich herausgestellt.

M: Alle Menschen über 80 sind tot. Vielleicht leben noch welche im Nachbardorf. Keiner traut sich, hinzufahren, um nachzusehen. Ständig kontaktieren wir die Regierung, unsere und die hiesige, um evakuiert zu werden. Keiner erreichbar.

S: Versuch, zurückzukommen! Kannst du nicht einfach ein Boot nehmen und rüberfahren?

M: Die Boote sind alle weg. Und ein paar Menschen. Manche geflohen, viele gestorben. Man traut sich nicht mehr, einander ins Gesicht zu sehen.

S: Danach wird es besser, glaube mir!  Die Lösung war schon immer: Weniger arbeiten! Jetzt gibt es nicht mehr soviel zu tun, aber dafür das Grundeinkommen. Ich male und mache ausgedehnte Spaziergänge im Wald. Das Agenturleben war der größte Unfug meines Lebens. Viele Eltern unterrichten ihre Kinder in Gruppen zu Hause. Sie haben in der Krise gemerkt, dass die Kinder so viel mehr lernen und ruhiger werden. Die Lehrer haben jetzt Zeit für die Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Gewalt und psychische Erkrankungen scheinen zurück zu gehen. Überhaupt sind wir gesünder und freundlicher, seit wir ausschlafen.

M: Die Alten stolpern zum Ersticken raus auf die Straße. Auch Junge sterben. Alle rennen voreinander weg. Bloß die neuen Waisenkinder streunen die verlassenen Strände entlang. Die großen plündern und erpressen, die Kleinen kacken auf den Marktplatz und blecken die Zähne, wenn sie jemanden sehen. Aus Angst wirft man ihnen an Besitz hin, was man bei sich trägt. Kannst du mich irgendwie retten?

S: Ich glaube nicht. Es ist wunderschön in unserer neuen verlangsamten Welt, bloß die Grenzen sind noch geschlossen. Sicher nur eine Frage der Zeit. Halte durch. Du bist ja jung.

M: Jens ist gestorben. Ich bin weggerannt, als er zu Husten begann und habe erst vier Wochen später im Haus nachgesehen. Da waren die Tiere schon am Werk. Ich habe jetzt die kleine Trattoria am Hafen übernommen. Nudeln gibt es natürlich keine, es gibt ja kein Weizen hier, aber die Waisenkinder bauen Floße und paddeln raus aufs Meer, um Hummer und Fische zu fangen. Manchmal bringen sie auch Menschen mit, die sie weit draußen im Meer finden. Wir brauchen jeden. Ich hoffe nur, die Nachfahren der Winzer wissen, was sie tun. Ich habe einen kleinen Jungen adoptiert. Ich hatte mir schon lange gewünscht, Mutter zu sein.

S: Es tut mir leid wegen Jens! Aber gut mit der Trattoria! Und das Kind – was machst du mit dem Kind, wenn du wieder zurück kommst? Die Grenzen sollen wohl demnächst wieder geöffnet werden, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du einfach ein fremdes Kind mitbringen kannst. Wir müssen ja nicht nur unsere Gesundheit verteidigen sondern auch unsere Sicherheit. Es passieren so viel weniger Straftaten, seit die Polizei jederzeit jedes Handy tracken und alle Nachrichten lesen kann und alle um 23:00 nach Hause gehen. Hashtag savelives! Übrigens habe ich mich verliebt. Wir haben uns beim Waldyoga kennen gelernt. Er ist auch Künstler. Wir wohnen jetzt zusammen in einem Loft am See (es hat ja trotz Grundeinkommen nicht jedes Unternehmen den Virus überlebt und so sind die Mieten herrlich günstig). Ein Raum dient als Atelier, da stellen wir unsere Werke aus. Ich biete außerdem Gesundheits-Malen an und er Malen als Trauerarbeit. Es hat ja jeder jemanden verloren. Arbeit bereitet so viel mehr Freude, wenn man damit nicht die Miete zahlen muss! Wie geht es Dir und dem Kind?

M: Guten Abend! Ich führe die Trattoria jetzt nicht mehr allein, zwei junge Frauen aus dem Dorf haben sich angeschlossen, ihre Familien sind auch tot. Wir haben jetzt 6 Adoptivkinder. Manche davon sind schon groß genug, um fischen zu fahren, so helfen sie uns. Immer öfter bringen sie Menschen vom Meer mit. Die Toten werfen wir zurück in die Wellen, die Lebenden machen sich auf den Bauernhöfen nützlich. Der Bäcker wird nächste Woche sechzig und hinter vorgehaltener Hand verabreden sich manche, ihn zu ermorden. Sie glauben wohl, das Alter löst die Seuche aus. Ich weiß nicht, ob sie das ernst meinen. Die Regierung hat mir übrigens geschrieben. Mir wurden die Staatsbürgerschaft und das Einreiserecht aberkannt.
Es ist nicht klar, wie lange ich noch mit Deutschen online kommunizieren darf, irgendetwas in meinen Textnachrichten wurde wohl als kriminell eingestuft. Falls wir uns nicht mehr lesen, wünsche ich Dir alles Gute. Bleib gesund!

 

Sicher teilen mit den neuen Shariff-Buttons für mehr Datenschutz!
Wir benutzen Cookies, um die Nutzerfreundlichkeit der Webseite zu verbessen. Durch deinen Besuch stimmst du dem zu.