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#weiterschreiben100 – Fiktion

Aachen, 19. März 2020

Autorin: Annette Mertens

„Karneval“

 

Die Bässe gehen durch Janas ganzen Körper. Wumm, Wumm. Sie sieht, wie Babs ihr Sektglas in einem Zug austrinkt und sich die Pipi Langstrumpf Perücke geraderückt. Sie lacht hysterisch.
Jana wendet sich ab und sucht den Ausgang. Seit fünf Jahren hat sie sich nicht in einer solchen Menschenansammlung aufgehalten, in einer solchen Lautstärke, und inmitten einer solchen aufgesetzten Fröhlichkeit. Es ist 19 Uhr 45 . Seit zwei Stunden versucht sie, in Stimmung zu kommen. Schließlich hat sie doch lange Zeit im Badezimmer damit zugebracht, sich zurechtzumachen, die braunen Hörner aufzusetzen und sich ein lustiges Giraffenmuster ins Gesicht zu schminken.

Noch ein Bier. Dann wird sie Babs sagen, dass sie Kopfschmerzen hat und nach Hause muss.

Im Getümmel schüttet ihr jemand Bier in den Nacken. Nicht auch das noch. Wütend dreht Jana sich um und sieht einen großen Mann mit grüner Perücke vor sich. Er lacht, greift nach Janas Schultern, wiegt sie im Takt und beginnt zu singen: „I will survive…Gloria Gaynors Stimme dröhnt in Janas Ohren. Jana trinkt das Bier in einem Zug aus, damit sie die Hände frei hat. Der Mann mit der grünen Perücke kommt ihr bekannt vor. Soll sie ihn ansprechen?

Sie überwindet ihre Schüchternheit. Schließlich ist Karneval. Zu verlieren hat sie sowieso nix. Wenn sie jetzt in ihr kleines Haus nach Aachen zurückkehrt, wartet nur die nicht ausgeräumte Spülmaschine auf sie.

„Ich kenne dich.“ Sie muss schreien, damit er sie überhaupt versteht. „Aber ich weiß deinen Namen nicht.“

„Fritz“, säuselt er ihr ins Ohr. „Du kennst mich?“ Sein Lächeln ist unverschämt verheißungsvoll.

„Firma Zentis. Vor einigen Jahren.“

Er beginnt zu lachen. „Da arbeite ich schon lange nicht mehr.“

„Was machst du inzwischen?“

„Leben!“ Dann wirbelt er Jana herum. Die Musik ist mitreißend. Die Scheinwerfer an der Decke über den Luftballons glühen, so wie Janas Wangen. Fritz strahlt sie an. Babs hält Jana ein weiteres Bier vor die Nase. Sie hat einen Piraten im Arm, dem sie ab und zu einen Kuss auf die Wange drückt.

Jana fühlt sich leicht. So leicht wie nie. Fritz legt seinen Arm um sie und prostet ihr zu. Er ist schlank, hat tiefe Falten im Gesicht und wassergraue Augen. „So, du lebst also“, ruft Jana laut.

Seine Lachfältchen um die Augen machen ihn noch anziehender. Bestimmt weit über fünfzig, schätzt  ihn Jana.

„Mir geht es gut“, brüllt er in ihr Ohr. „Ich bin jetzt selbständig. Und habe mehr Zeit für mich. Keine Verpflichtungen mehr, ich bin viel in der Natur, gehe wandern. Das Leben ist schön.“

Jana nickt. Wenn sie nicht alleinerziehend mit zwei Kinder wäre, würde sie auch gerne so leben. „Ich liebe den Wald“, sagt sie. Doch Fritz hat es schon nicht mehr gehört. Er grölt das nächste Karnevalslied. Jana ist glücklich. Babs kommt zu ihnen, die Augen sind rot, ihr Blick nicht mehr geradeaus. „Ihr zwei seid toll“, schreit sie Fritz ins Ohr. „Wollt Ihr knutschen?“

Sein Blick erhellt sich. Er lacht schallend, dann greift er Jana und drückt ihr seine Lippen auf den Mund.

Jana vergeht Hören und Sehen. Das Leben ist schön.

Die Schmetterlinge im Bauch vermehren sich explosiv. Jana hat aufgehört zu trinken, sie klammert sich nur noch an Fritz. Möchte seine Nähe nicht mehr aufgeben. Sein Atem riecht nach Cola – und Wein mit Zwiebeln gemischt. Ob er verheiratet ist? Dann sollte sie lieber gehen. Sie hat die Nase voll von Ehemännern, die ihr schöne Augen machen. Ein vorsichtiger Blick auf seine Hände. Kein Ring, keine Einkerbung in der faltigen Haut. „Keine Verpflichtungen, hat er gesagt. Er sieht so ehrlich aus mit seinen grauen Augen.

Es ist weit nach Mitternacht, als sie sich aus Fritz´ Armen löst. „Ich muss nach Hause.“

Er packt sie ein letztes Mal, ein letztes Mal seine Lippen auf ihrem Mund. Dann lässt er los. „Deine Nummer…“ flüstert er in ihr Ohr.

Jana zögert keine Minute. „Wenn du Lust hast, mich zu treffen, schick mir eine Whats App.“ Jana geht leichten Schrittes zum Taxistand. Von Eschweiler bis nach Hause in Aachen ist es ganz schön weit. Und teuer. Aber ihr Ex ist mit den Kindern in der Schweiz, wo jeder einzelne Skipass bestimmt 300 Euro kostet. Na also.

Noch in der Nacht leuchtet ihr Handy neben ihrem Kopfkissen auf. „Hi.“ Nummer unbekannt.

Zwei Tage später ist der Karneval vorüber. Die Stadtreinigung befreit die Straßen von klebrigen Bonbons und Schokowaffeln, die sich aus der Verpackung gelöst haben und alle Gullis verstopfen. In den Kneipen wird gewischt und gewienert.

Jana braucht zwei Tage, um sich von ihrem Kater zu erholen. Normalerweise trinkt sie keinen Tropfen Alkohol. Sie fragt sich, was ihr an diesem Abend passiert ist. Seit fünf Jahren ist sie nicht mehr in einer Kneipe gewesen, ganz zu schweigen von einem Ballsaal mit mehr als fünfhundert Menschen.

Fritz und sie schreiben jeden Tag. Am Aschermittwoch sind es sieben Nachrichten, die hin und her gehen. Am Abend liest Jana: „Ich vermisse dich.

Am Donnerstag sind es dreiundzwanzig Messages. „Sollen wir uns treffen?“ Janas Daumen zittert, als sie auf SENDEN drückt.

„Ich bin verreist. Nächste Woche zurück“, schreibt Fritz.

Janas Ex-Mann bringt Jonas und Lukas zurück. Die beiden Zehn– und Zwölfjährigen flitzen aufgeregt durch das Haus. „Ruhe!“ brüllt Jana durchs Treppenhaus. Sie will wieder ihre Ruhe haben. Ihre Auszeit war so schön gewesen.

„In Italien sind schon die ersten Corona-Fälle“, berichtet ihr Zwölfjähriger. „Wir waren gar nicht weit weg davon.

Jana nickt. Dieses Virus aus China.

Ihr Ex-Mann macht ein strenges Gesicht. „Ich hoffe ja, du hast nicht Karneval gefeiert. Am besten bleibst du ab jetzt zuhause. Denk´an dein Immunsystem!“

Jana verzieht das Gesicht. Sie denkt seit fünf Jahren an nichts anderes, als an ihr Immunsystem. „Bis das hier in Deutschland ist, haben wir Frühling. Dann verbreitet es sich sowieso nicht mehr.“

Ihr Ex-Mann schmeißt wütend die Haustür hinter sich zu.

Jana fühlt sich beschwingt. Immer wieder holt sie ihre Erinnerung an die Karnevalsparty hervor. Das Licht, die Stimmung, die Musik. Und Fritz. Seine grauen Augen. Sie hatte es gespürt, das Gefühl der Lebensfreude, das wie eine polarisierende Schwingung zwischen ihnen gewesen ist. Ein Geschenk des Himmels, dieser Karnevalsball.

„Wann kommst du zurück?“, schreibt sie Fritz am Abend.

Bald.“

„Okay. Melde dich. Kuss, J.“ Damit hat sie sich schon weit aus dem Fenster gelehnt. Viel weiter, als es sich für eine Neunundvierzigjährige ziemt. Aber sie ist es leid, allein zu sein, wenn die Kinder bei ihrem Vater sind; leid, die Wochenenden nur mit Freundinnen oder den Kaninchen ihrer Söhne zu verbringen.

„Mache ich.“ Er ist so ehrlich. So vernünftig. Jana weiß, er ist ihr Traummann. Sie freut sich. Wie schön, dass es Karneval gibt. Die Fünfte Jahreszeit, in der die Menschen offen und fröhlich sind.

Am Freitag sieht sie in den 20-Uhr-Nachrichten das erste Mal Gangelt auf dem Bildschirm. Ihr Herz beginnt zu rasen. Aus Gangelt kommt ihre Freundin Babs.

Die ruft am nächsten Tag bei Jana an. „Ich bin in Quarantäne. Obwohl ich gar nicht auf dieser Kappensitzung mit dem Coronafall war. Der Mann ist in einem kritischen Zustand.“

Jana zuckt zusammen. Das kann doch alles nicht wahr sein.

„Ich habe Angst, Jana. Ich hätte dich nie überreden sollen, mit mir zum Karneval zu gehen. Du gehörst zur Risikogruppe.“

Jana sitzt den ganzen Abend am Computer und liest im Internet. Zur Risikogruppe gehören ältere Menschen, chronisch Kranke und solche mit einem schwachen Immunsystem. Dazu gehört sie. Dann sucht sie die Fallzahlen der Infizierten heraus. Erst zwanzig in Aachen. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer davon neben ihr gestanden, sie an Karneval in den Arm genommen hat, ist verschwindend gering. Es wird schon gut gegangen sein.

Jana geht weiter arbeiten. Sobald sie aus dem Haus geht, wickelt sie sich einen Schal um den Hals und zieht Handschuhe an. Die behält sie in Geschäften, Cafés und Restaurants an.

Die ersten Kollegen bleiben zuhause. Haben Erkältung, Gliederschmerzen, nichts Ernstes wird versichert.

Sie schickt Fritz weiter Herzchen-Emojis und fragt, wann er wieder zurück ist. Er antwortet „Bald.“

Ihr Ex-Mann schickt ihr per E-Mail einen Bericht. Bleib bloß zuhause!

Jana liest den Bericht vor dem Einschlafen, kurz vor Mitternacht. Die Fallzahlen aus China, Statistiken, Todesfälle, Inkubationszeit von zwei Wochen, Beschreibung der Situation in Italien. Danach kann Jana nicht einschlafen. Ein Satz brennt sich in ihr Gehirn. Durchschnittlich verbleiben 17,3 Tage von der Infektion bis zum Tod.

Sie denkt an die Karnevalsfeier. Wie unbeschwert sie da war. Sie sucht Fritz´ Nummer. „Wie geht es dir?“ Keine Antwort.

Sie versucht Atemschutzmasken und Sterilium zu besorgen. Die Apotheken haben keines mehr. Ihre Nachbarin, die als Arzthelferin arbeitet, bringt ihr abends überraschend eine Flasche vorbei. „Habe ich heimlich abgefüllt. Ich weiß doch, dass Sie krank sind.“

Die Kinder sind gut gelaunt. „Wahrscheinlich machen die Schulen nächste Woche zu. Haben die Lehrer gesagt. Fünf Wochen Osterferien, wo fahren wir hin, Mama?“ Jana schweigt.

Sie versucht, ihren Arzt anzurufen. Seit ihrer Leukämie vor fünf Jahren und der nachfolgenden Transplantation ist sie in kontinuierlicher Behandlung. Alle vier Wochen werden ihre Blutwerte überprüft. Die Werte sind seit einem halben Jahr gut, sie fühlt sich endlich fast gesund. Nur ihr Immunsystem ist durch Medikamente unterdrückt.

Ausgerechnet jetzt ist der Herr Professor nicht zu erreichen. Sie versucht es zwei Tage lang, am Ende stündlich.

Endlich, am Mittwochabend, der Rückruf des Arztes.

„Was soll ich tun, wenn ich Symptome bekomme? Ich kann keinen Kontakt mit einem Infizierten nachweisen und werde deshalb nicht getestet“, sagt sie.

Wir können den Test hier machen. Wenn er positiv ist, weise ich sie schnellstmöglich ein.“ Nach dem Telefonat reißt Jana die Fenster auf und atmet tief ein.

Jana lässt sich krankschreiben, geht nicht mehr arbeiten. Zuhause fühlt sie sich wie eingesperrt. Was passiert da draußen? Wo ist die unsichtbare Bedrohung? Woran kann man erkennen, wer krank ist? Die Nachbarn, die sie auf der Straße trifft, sind verärgert, panisch oder zynisch.

Die Karnevalsfeier und Fritz gehen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie möchte ihn gerne wiedersehen. Aber auf ihre letzten Nachrichten hat er nicht mehr geantwortet. Hat sie sich das alles nur eingebildet?

„Was ist mit dir? Melde dich, Fritz“, bettelt sie ihn in einer Sprachnachricht an.

Am nächsten Morgen, nachdem die Kinder zu ihrem letzten Schultag aufbrechen, kommt die Antwort. „Ich habe Fieber. Wir sollten uns jetzt nicht sehen.“

Jana schnürt sich die Kehle zu. Fritz hat Fieber. Fritz ist krank. Es ist weniger als zwei Wochen her, dass sie mit ihm gefeiert und in seinen Armen gelegen hat. Sie, Jana, im Giraffenkostüm und mit einem unterdrückten Immunsystem.

Wie in Trance verrichtet sie ihre Hausarbeit. Das Handy trägt sie von nun an ständig bei sich. Nachts stellt sie es nicht mehr stumm, wie sonst, damit sie keine Nachricht, kein Klingeln im Schlaf versäumt.

Die Nachrichten überschlagen sich. Die Angst kriecht in ihr hoch wie eine Schlange, die sich um einen Baum schlängelt.

„Ich kann es nicht mehr hören“ schreit Jana am 6. März, als sie den Fernseher anschaltet, und auf drei von vier Programmen die Grafiken der Corona-Infizierten in Heinsberg angezeigt werden. Sie knallt die Fernbedienung auf den Couchtisch. Der Bildschirm wird schwarz.

Mittags kommen die Kinder aus der Schule. „School´s out forever“, singen sie im Hausflur. Jana beginnt, große Mengen Bolognese-Sauce zu kochen. „Habt ihr Hausaufgaben auf?“

Ab Montag. Dürfen wir Freunde einladen? Tim und Felix wollen kommen, und Samuel und Sebastian …“ Jana hört schon nicht mehr zu. Bitte nicht sechs halbwüchsige Jungen in ihrer Bude. Sie verbietet es. Die Stimmung ist miserabel.

Am nächsten Morgen ordnet sie an, dass sie ihre Zimmer aufräumen und im Haushalt helfen sollen. Lukas und Jonas ziehen schmollend in die erste Etage in ihre Zimmer und tauchen den ganzen Vormittag nicht auf.

Jana legt sich auf das Sofa, rollt sich in eine Wolldecke ein und schaltet das Radio an. I will survive.“ Es kommt ihr fast zynisch vor. Über ihr poltert es aus den Kinderzimmern. Die Jungen scheinen die Möbel herumzuschmeißen. Sie sollte sich um sie kümmern. Sie ist jetzt die wichtigste Bezugsperson für die zwei Jungen.

Fast hätte sie ihr Handy nicht gehört. Eine Nachricht. „Ich bin negativ. Wir können uns jetzt treffen.“

Zitternd setzt Jana sich auf. Tränen rollen über ihr Gesicht. „Nein“, schreibt sie.

Dann wirft sie das Handy auf den Tisch, geht in den Flur und ruft ihre Kinder zu einem Ausflug in den Wald herunter. Draußen ist ein schöner Märztag. Im Radio haben sie frühlingshaftes Wetter vorausgesagt.

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