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Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit

Die Romane von Benedict Wells sind Freunde, die ich gerne um mich habe und die viel zu schnell wieder verschwinden, weil ich ihre Erzählungen aufsauge und sie in Folge nur noch in mir ein Eigenleben führen, aber die Seiten leer bleiben.

Ähnlich wie es mir mit Wells Büchern ergangen ist, ergeht es Jules, dem Protagonisten seines neuen Romans. Sein Leben und das seiner beiden Geschwister Liz und Marty verändert sich rasend, als die Eltern sterben und sie ins Internat kommen. „Das Ende der Einsamkeit“ spannt Jules Geschichte vom Jahr 1983 bis 2014, in die Gegenwart der Erzählung. Etwa dreißig Jahre Leben werden da erzählt auf nur 355 Seiten. Wie gelingt Wells dieses Unterfangen?

Die Handlung setzt mit einem knappen Prolog in der Gegenwart ein, um dann in der Rückblende chronologisch aufbauend zu erzählen, wie der tödliche Unfall der Eltern Jules Leben geprägt und ihn bis in dieses Krankenhauszimmer, bis zu seinem Beinahsuzid geführt hat.

Der Plot und sein Thema klingen erst einmal nicht herausragend, wie oft haben wir schon Ähnliches gelesen. Aber Wells wäre nicht Wells, bekäme das Buch nicht seinen ganz besonderen Klang, den nur er erzeugen kann, wäre die Rahmenhandlung alles und gäbe es nicht viel mehr zwischen den Zeilen zu entdecken als diese Inhalte: ein ganzes Universum.

Der erste Satz führt den Leser mitten hinein in Jules Welt. „Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.“ Darum geht es eben auch, den Tod als mitten unter uns zu begreifen und ihn gerade deshalb nicht zu fürchten, weil er sonst gewonnen hätte. Dabei bedingt doch gerade er erst das Lebendige, in der Abgrenzung zu Wells Todesbild, zum schneebedeckten Feld, in das die Erinnerungen fallen, um sich dort hineinzusenken, einzugehen in die Unendlichkeit und sich aufzulösen.

Dem Tod begegnet Jules im Roman in mannigfaltiger Gestalt: Er ist der Schatten, der auf seiner Jugend lastet. Er nimmt Alva, seiner Jugendliebe und späteren Frau, den Schriftsteller und Ehemann Romanow. Er löscht dessen Gedanken und verwebt sie mit den Ideen Jules. Romanow weiß um die Liebe Jules zu seiner Frau Alva und schließt einen Deal mit ihm: Du vollendest meine Erzählungen, dafür bekommst Du meine Frau. Das bist Du mir schuldig.

In letzter Konsequenz wiederholt sich bereits gelebtes Leben und findet in neuen Variationen seine Fortsetzung. Als Jules und Alva endlich zusammenkommen, ihre Liebe sich in zwei Kindern verwirklicht, erkrankt sie an Krebs und stirbt. Vincent, ihr gemeinsamer Sohn, ist jetzt in einem ähnlichen Alter wie Jules, als seine beiden Eltern gestorben sind. Der Ich-Erzähler muss sich stellen. Er kann nicht mehr davonlaufen. Einfach fliegen und im Nichts aufgehen, ist nicht mehr möglich, weil er Mitleid empfindet mit seinen Kindern, insbesondere mit seinem Sohn, in dem er immer wieder Züger seiner selbst sieht. Jules übernimmt Verantwortung. Die Angst, die ihn sein Leben lang begleitet hat, auch die vor dem Tod und dem Leben, legt er ab. Das letzte Bild, das Jules durch Wells seinen Leser schenkt, ist eines der Hoffnung: Im Ferienort Berdillac seiner Kindheit steht er erneut an jener Stelle im Wald, an der er schon als Kind auf einem Baumstamm balanciert hat, der über einen Fluss führt. Zwei Meter geht es in die Tiefe. Die mahnende Stimme des Vaters hat er noch im Ohr und das Bild des im reißenden Strom ertrinkenden Hundes. Vincent sieht Jules ängstlich an und da entschließt er sich, eine Erinnerung zu säen, die seinen Sohn begleiten soll: Er wagt es und balanciert über den Stamm und wieder zurück. Die Angst soll nicht das Leben seines Sohnes bestimmen.

Auf der einen Ebene verhandelt der Roman also die Frage wie die Bewusstwerdung des Todes Jules verändert, ihn erst ängstlich und zurückhaltend werden lässt, wie er sich dem Tod aber gerade dadurch nicht entschwinden kann, ihm immer wieder begegnet, bis er mit eben jener Bedingtheit leben lernt und zwar frei, die Trauer zulassend und den Schmerz, die Wut und das Glück.

Die Angst hat Jules bis zu diesem Zeitpunkt mehr genommen als der Tod selbst. Sie hat Erinnerungen abreißen lassen, ihn auf Umwege geführt und Hindernisse vor ihm aufgetürmt, die keine waren.

Dagegen stehen die Liebe und die Freundschaft, stehen Geburt und nicht zuletzt das Schreiben. Denn der Ich-Erzähler ist nicht nur in seiner persönlichen Entwicklung ein Werdender. Wells geht auch der Frage nach, was neben all den Bedingtheiten eines Lebens, neben Schicksalsschlägen und Zufällen, neben Sozialisation und Begegnungen, einen Menschen ausmacht. Jules versteht, dass er nur im Schreiben alles gleichzeitig sein kann und ist:

„Denn der kleine Junge, der sich vor allem fürchtet, das bin ich. Genauso das Kind, das mit dem Fahrrad todesmutig den Hügel hinunterfährt, sich den Arm bricht und trotzdem sofort weitermacht. Ich bin der Außenseiter, der sich nach dem Tod seiner Eltern zurückzieht und nur noch vor sich hinträumt. Genauso der bei den Mädchen beliebte, temperamentvolle Schüler, dessen Eltern noch leben.“ (Wells, Benedict: Vom Ende der Einsamkeit. Zürich, 2016,  S. 336)

Wells erzählt eine Geschichte über das, was bleibt. Auch sein Protagonist Jules ist ein Bewahrer, einer, der die Geschichten und Erinnerungen vor dem Verschwinden rettet; die von Alva, die seiner Kinder, seiner Eltern, seiner Geschwister. Das alles kommt in einem Stil daher, der an Erzählungen erinnert, die am Lagerfeuer heraufbeschworen werden, eingängig und ohne jede Prätention. Umso mehr blühen Motive und Bilder auf, umso mehr lassen wir uns hineinziehen in diese Geschichte und deren Erzählstimme, die – zumindest mich – zum Weinen gebracht hat, weil sie fein und gekonnt die Brüche im Leben Jules nachzeichnet und den Leser abtauchen lässt in die Tiefe seines psychischen Erlebens, die, im Schatten wie im Licht, ihre Schönheit entblättert.

 

http://www.diogenes.de/leser/katalog/nach_autoren/a-z/w/9783257069587/buch

http://www.lovelybooks.de/lesung/benedict-wells/

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