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Ada Badey gewinnt Schreibhain-Stipendium

Trommelwirbel und Applaus für unsere neue Stipendiatin im Jahrgang XVII: Ada Badey!

Die Jury gratuliert von Herzen. 

Badey gelingt es mit “Gossenwalzer” mühelos eine Atmosphäre zu erzeugen, der sich die Leser*in nur schwer entziehen kann. Ihre ungewöhnlichen Bilder bleiben haften. Auf sprachlicher wie dramaturgischer Ebene entwickelt Badey eine enorme Wucht. Ihr Erzählton, der eine diffuse Wahrheit zu offenbaren scheint, oszilliert zwischen einer zarten Verletzlichkeit und nüchternen Distanz. Ohne Larmoyanz, beinahe mit Leichtigkeit, erzählt die Autorin die Geschichte eines endgültigen Abschieds.

Auszug aus dem dem Roman “Gossenwalzer” von Ada Badey

Tildas Mutter geht, und Tilda sieht Huckleberry Finn das letzte Mal

Februar 1979

Kurze Zeit später und ein halbes Jahr nachdem Gudrun erschlagen worden war, an einem kalten Tag im Februar 1979, stand meine Mutter in einer leichten Sommerjacke, zwei Koffern, rechts und links, und einem kleinen, billigen Strohhut auf dem Kopf am Herd in unserer Küche. Der Herd war ausgeschaltet. Ihre Zigarette im Mund wippte im Takt ihrer Worte, „Hör zu Tilda, hör genau zu“, sagte meine Mutter, „ich gehe jetzt und du bleibst hier. Es geht nicht anders.“ Sie machte eine kleine Paffpause. „Weißt du, Tilda, plötzlich steht man da, alt, krank, das Hemd grün und hinten offen. Und zwar schneller, als man gucken kann, steht man da. Das ist keine Option für mich, damit das mal klar ist.“

Als sie weitersprach, wurden meine Ohren ganz taub. Meine Ohren schlossen sich wie die Nachtkerzen in unserem Hof, wenn es hell wird. Trotzdem konnte ich alles ganz genau verstehen.

„Bring mich zum Bahnhof, Tilda. Und erzähl niemandem davon. Bring mich zum Bahnhof und dann geh zurück in die Wohnung. Setz dich an den Küchentisch und merk dir alles. Präg dir alles genau ein. Du willst dich später erinnern wollen. Es ist wichtig, sich zu erinnern, von innen heraus. Die Reihenfolge ist egal. Onkel Sigi wird dich holen.“

Dann sah sie mich an. Kein Lächeln, kein Zorn, nur ein Gesicht mit dunklen Augen. Als hätte jemand ihre Gefühle entführt.

Sie warf noch einmal einen Blick in ihr Zimmer, das Zimmer, das ich nie betreten durfte, das Zimmer neben der Küche, und wir gingen aus dem Haus, das Haus, das meine Mutter seit Jahren nicht mehr verlassen hatte.

Es war heller Tag und die Sonne schien.

Ich lief neben ihr her, ich schaute immer wieder an ihr hoch, sie war noch ein paar Zentimeter größer als ich. Meine Mutter schaute geradeaus. Irgendwann setzte sie eine Sonnenbrille auf und nahm meine Hand. Sie nahm meine Hand wie etwas, mit dem sie sich auskannte.

Als wir am Bahnhof ankamen, fiel ein leichter Schnee. Er sah aus, als würde ihn der Himmel schicken.

Meine Mutter und ich, wir waren die einzigen Menschen am Gleis. Ich begann zu zittern, ich hatte keinen Mantel an. Meine Mutter trug diese leichte Sommerjacke. Sie stellte sich ein wenig abseits und holte eine Zigarette aus ihrer Jackentasche, kniff die Augen zusammen und sah mich an: „Tilda, du frierst nicht. Wenn man nicht will, friert man nicht, merk dir das. Das ist wichtig für dich. Ich bin nicht wichtig, verstehst du? Und jetzt hör zu. Ich bin deine Mutter. Das bleibt auch so. Du, Tilda, du bist in Ordnung. Du bist normal. Außergewöhnlich normal. Du bist die einzig richtige Wahrheit, die es gibt. Sag immer deine Wahrheit, die ist richtig. Da musst du nie ein Läppchen drumbinden. Mach, was du für richtig hältst. Egal, was andere dir erzählen, scheiß drauf.“ Sie zögerte: „Schlimmstenfalls legt man sich eine Kunstfellstola zu, oder eine Mondscheinkrankheit, oder was anderes, aber man ist raus aus dem Spiel, das muss man wissen, verstehst du? Und noch was: Das mit dem Schreiben in deine Notizbücher, das gefällt mir nicht, Tilda. Schreiben, das ist, als würdest du dich durch tote Fliegen wühlen. Wenn man so viel liest wie ich, dann weiß man sowas.“ Meine Mutter war jetzt vollständig in ihrem Zigarettenqualm eingehüllt. „Als du klein warst, wolltest du im Zirkus auftreten und mit Pferden jonglieren. Das war ein wirklich guter Plan.Und jetzt geh nach Hause. Geh erst in die Küche, dann in mein Zimmer, schau dir alles an. Wenn du dich genug an alles erinnert hast, vergiss es wieder. Vergessen ist genauso wichtig, wie sich erinnern. Und wenn Onkel Sigi dich holt, hier, gib ihm meine Zigaretten. Er soll endlich das Rauchen lernen.“ Sie hielt mir ihre volle Zigarettenpackung hin. Dann nahm sie sich noch drei Zigaretten heraus, lächelte und sagte laut, wie sie immer alles laut sagte: „Du solltest sie nicht tragen, Tilda, nie. Versprich mir das. Eine Kunstfellstola ist immer nur eine Krücke, merk dir das. Du schaffst das auch so.“

Das war der letzte der vielen Merksätze meiner Mutter. Ich nickte.

Wir sagten dann nichts mehr, ich fragte auch nichts, ein paar Minuten standen wir so da und es hörte auf zu schneien. Wir schauten uns nicht an, ich hätte ihre Augen auch nicht sehen können.

Ich schaute nach oben in die Sonne und es war kalt. Meine Hände wurden blau.

Der Zug fuhr ein, meine Mutter zog kräftig an ihrer Kippe, nahm die Brille ab und sah mich noch einmal kurz an. Für einen Augenblick sah ich diesen verwilderten Blick, den sie manchmal hatte, wenn sie nicht in dieser Welt war.

Sie blies mit dem Zigarettenrauch eine Haarsträhne weg und warf die Kippe zwischen die Gleise. Die Sonnenbrille warf sie hinterher.

Meine Mutter nahm die Koffer, setzte den Strohhut auf und stieg in den Zug. Die Sonne schien, es war Februar, es war kalt und es hatte aufgehört zu schneien.

Vielleicht aber auch nicht.

Bevor ich zurück in die Wohnung ging, lief ich zum Fluss. Obwohl es kalt und Winter war, sah ich Huckleberry Finn dort in der Sonne sitzen. Er trug keine Schuhe und er zitterte nicht. Sein Hut klemmte zwischen seinen Füssen. Ich setzte mich neben ihn und legte meinen Arm um seine Schulter. „Du frierst nicht, Hucky, wenn man nicht will, friert man nicht, verstehst du?“ Ich sagte es ganz leise und versuchte so zu gucken wie Onkel Sigi, wenn er mir sagt, dass meine Mutter ihre Wollmäusetage hat und wir ganz vorsichtig sein sollten. Ich sagte es mit Onkel Sigis grünen Augen und seiner sanften Stimme. Huckleberry Finn und ich, wir saßen so, wie wir früher oft gesessen sind. „Hör genau zu Hucky. Ich gehe weg für immer. Es muss sein, geht nicht anders. Meine Mutter und Onkel Sigi wissen nichts davon und ich werde auch nicht mit ihnen darüber sprechen. Sie würden es nicht verstehen. Meine Mutter wäre am Boden zerstört und würde glauben, es sei ihre Schuld. Aber weißt du Hucky, es gibt keine Schuld. Auch Onkel Sigi würde sich furchtbare Sorgen machen, und mir sagen, dass ich noch nicht so weit sei. Er würde sagen: Bleib, Giraffe, geh nicht. Du musst noch ein bisschen auf die Weide. Ist noch zu früh.

Huckleberry Finn drückte meinen Arm als ich weitersprach.

„Aber wenn ich erst mal weg bin, werden sie begreifen, dass es nicht anders ging. Sie werden ihr Leben weiterleben, ohne mich, sie werden an mich denken und wissen, dass man manche Dinge einfach nicht verstehen kann.Und genauso machst du es auch. Du machst einfach weiter. Versprich mir das.“ Es tat mir gut so viel zu reden und es fühlte sich richtig an.

Huckleberry Finn schaute mich an. Er sah normal aus und gleichzeitig wie jemand der was Schlechtes gegessen hat und damit nicht rechnen konnte.

Irgendwann stand er langsam auf. Erst schaute er lange auf den Fluss und dann genau so lange auf mich. Dann gab er mir seine Pfeife, dreht sich um und ging.

Ich stand noch eine Weile da und schaute in den Himmel. Dann warf ich die Pfeife in den Fluss.

Ich ging zurück in unsere Wohnung und setzte mich an den Küchentisch. Ich sah mir alles ganz genau an. Den Tisch, den Herd, das Waschbecken in dem meine Mutter abwechselnd Kartoffeln und ihre BHs gewaschen hatte. Das Waschbecken, an dem Onkel Sigi sich jahrelang rasiert und „Rot ist die Liebe“ gesungen hatte. Das Sofa, auf dem sie oft gelegen ist und aus dem an ihren Wollmäusetagen der Zorn kroch.

An dem Tag, an dem meine Mutter in den Zug gestiegen ist, habe ich mich entschieden, dass ich daran nicht sterben würde. Nicht daran und auch nicht an allem anderen.

An dem Tag, als meine Mutter in den Zug gestiegen ist, schien alles normal zu sein, nur dass sie nicht mehr da war und die Tür zu ihrem Zimmer offenstand.

Ich setzte mich auf ihr Bett. Ich schaute mich um. Alles war aufgeräumt, sauber. Die Postkarten waren weg.

Es waren winzige Löcher an der Wand ihres Bettes, die Löcher von den Heftzwecken der Postkarten, die Postkarten an Gudrun. Ich schaute sie mir lange an. Ich kniete mich auf das Bett meiner Mutter, das fein säuberlich abgezogen war, in dem Zimmer, das nach nichts roch. Ich schaute sie mir genau an. Die Löcher.

Löcher. Löcher so klein wie winzige Ameisengräber. Wenn es überhaupt nach irgendetwas roch in dem Zimmer, dann roch es nach den Löchern in den Wänden, in dem Zimmer meiner Mutter.

An dem Tag, an dem meine Mutter in den Zug stieg, legte ich mich auf ihr Bett. Dort lag ich drei Tage. Ich schlief nicht. Aus der Küche hörte ich das Ticken der Uhr.

Die Einsamkeit meiner Mutter, ihre Einsamkeit und ihre Lügen waren zu meiner Mitgift geworden. Und dieses Gift war es, was in meine Kleider kroch. Ich zog mich aus. Nackt, ich fror nicht. Aber dieses Gift kroch unter meine Haut, langsam über Stunden und Tage. Es roch nicht gut. Aber jede Zeit hat ihren eigenen Geruch.

Ich begann mich zu erinnern. Ich erinnerte mich an die Sonne im Garten der Knubbelkopffrau, an die dicke Katze, an das Waisenhausmädchen und das verrostete Dreirad. Ich erinnerte mich an die Stelle, an der die tote Gudrun gelegen ist, wo auch ich gelegen bin und den Manschettenknopf und mein Herz aus Stein gefunden hatte. Das Herz aus Stein, das niemand haben wollte. Ich erinnerte mich an meine Mutter und den Unterrock mit dem Fettfleck unten links. Und ich erinnerte mich an den rostroten Herrn Brockmann, an die Bank, wo der saß, an den Schnee. Ich erinnerte mich an das Lied des Kommunisten, an Gudruns Brille und daran, dass sie nie gefunden wurde.

Ich erinnerte mich solange, bis ich mich nicht mehr bewegen konnte. Ich aß nicht. Ich trank nicht.

Es wurde Nacht, es wurde Tag. Ich hörte ein Geräusch, es hörte sich an wie ein sich aufbäumendes Tier, schwach und in Gefangenschaft. Ein Tier, das versucht, kein Geräusch zu machen. Das war ich.

Am dritten Tag stand ich auf und legte mich ein paar Stunden in heißes Wasser. Danach legte ich mich eine Weile draußen in den Schnee.

Das Gift floss in den Schnee, den armen Schnee, der sich schwarz färbte und schrie. Als er nicht mehr schrie, der arme Schnee, stand ich auf, zog mir meine Kleider an und legte mich noch einmal auf das Bett meiner Mutter. Irgendwann stand Onkel Sigi in der Tür. Im Gegenlicht konnte ich sein Gesicht nicht sehen. Aber ich erkannte ihn sofort.

Onkel Sigi wickelte mich in die Wolldecke, die von dem Bett meiner Mutter, nahm mich hoch, sagte leise: „Mach dich leicht, Giraffe“, und er trug mich fort. Er nahm mich einfach mit. Die Wolldecke roch nach Mottenpulver und Mundgeruch. Ich aber roch gut.

Die Löcher, die Löcher von den Heftzwecken der Postkarten, die Ameisengräber, waren das Letzte, worauf mein Blick fiel, als ich auf Onkel Sigis Arm erst das Zimmer meiner Mutter und dann das Haus für immer verließ.

Und das ist es, was ich bis heute noch deutlich sehen kann, wenn ich mich erinnere.

Es war kalt, als Onkel Sigi mich forttrug und die Sonne schien. Es war die gleiche Sonne, die am Himmel stand, als meine Mutter in den Zug gestiegen ist und ich meine Mutter zum letzten Mal sah.

Nie wieder habe ich so viel Winter gesehen.

Vita

Ada Badey

Die Anfänge: An einem eisigen Märztag erblicke ich im tiefsten Ruhrgebiet das Licht der Welt. Meine polnischen Großeltern waren der Meinung „das wird Präggggung geben, arrrmes Kind“. Diese Aussage hat mich weit in meine künstlerische Laufbahn begleitet …

Nach einem relativ kurzen Schulbesuch arbeite ich gefühlte 120 Jahre als „Tippse“ beim Sozialamt. Das prägt dann auch wieder. Ein Schauspielstudium in Hamburg und diverse Engagements an Stadt- und Staatstheatern später, werde ich Mutter. Meine nächste Wirkungsstätte ist Berlin. Hier schreibe ich Theaterstücke, spiele und singe eigene Songs und werde das erste Mal durch Auszeichnungen des Berliner Senats als Autorin in meiner künstlerischen Laufbahn geadelt. Die Mischung aus Kabarett, Schauspiel und Poesie ist fortan mein Terrain. Drei Jahre arbeite ich beim Berliner Staats-Kabarett Die Distel. Umzug nach Köln. Mit eigenen Programmen, Solo und als Duo stehe ich regelmäßig auf Deutschlands Klein- und Großkunstbühnen. Die Leidenschaft fürs Theaterstückschreiben wird 2008 mit dem Woman Award NRW und 2010 durch den Autorenpreis der NRW Stiftung bedacht.

Ada Badey

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