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Schreibhain-Stipendium
geht an…

Von Herzen gratulieren wir unserer neuen Schreibhain-Stipendiatin im Jahrgang XVIII Lena Schätte.

Selten gab es eine so klare Abstimmung der Jury für einen ersten Platz. Schättes “Meerjungfrau” ist von großer sprachlicher Klarheit, dabei nuancenreich und berührend, ohne sentimental zu sein. Durchzogen von eindringlichen Bildern und Motiven spannt der Text seinen Bogen, ausgehend von Details, die sich zu einer   eindringlichen und in sich geschlossenen Erzählstruktur weben.

Hier lest ihr Lena Schättes Gewinnertext.

Meerjungfrau

Ich strecke meinem Vater zur Begrüßung die Hand entgegen, doch damit gibt er sich natürlich nicht zufrieden. Er umfasst meinen Unterarm, zieht mich über die Fußmatte ins Haus, in eine enge Umarmung. Etwas in mir zuckt, doch ich halte still.

Dann nimmt er auch David in die Arme. Die Beiden haben sich erst wenige Male gesehen,  trotzdem trällert mein Vater ein vertrautes „Hallo Schwiegersohn!“. Seine neue Frau hält sich im Hintergrund und lacht ein glucksendes Lachen.

„Wir haben für 19 Uhr reserviert.“, erinnere ich sie, doch das bringt wie gewöhnlich nichts. Lange stehen wir im Flur, sehen ihnen dabei zu, wie sie von Zimmer zu Zimmer huschen, Jacken und Brieftaschen zusammensuchend, während es heiß und heißer unter unseren Wintermänteln wird.

Davids Blick fährt über die Flurwände, voll schief hängender Bilderrahmen, die nicht zueinander passen, zusammengewürfelt aus vorherigen Leben. Er schlendert am Bild meiner Mutter vorbei, wirft ihr nur einen flüchtigen Blick zu. Er weiß nicht, dass sie es ist. Das Bild ist klein, verliert sich zwischen den anderen, als sei sie nur eine entfernte Tante. Sie lächelt gequält in schwarz-weiß. Ein Haar klebt in ihrem im Mundwinkel.

Selbst wenn meine Mutter herzlich lachte, hatte ihr Anblick etwas Elendes.

Diese kleine, dünne Frau, die in Pyjamahosen aus der Kinderabteilung tagelang im Bett lag. Zwischen hohen Kissen verschwand, sich nicht regte, sich nicht einmal umzudrehen schien. Der es gleich war, ob ihr die Mittagssonne ins Gesicht schien oder ob bereits ein dritter Tag vergangen war, ohne dass sie auf gewesen war, um etwas zu essen.

Dabei schien sie mir nie traurig. Ich sah sie nie weinen, nie über das Leben jammern. Als Kind erschien es mir eher, als wäre sie nur immerzu müde. Als strengten sie kleinste Dinge, wie ein Telefonat, ein kurzes Gespräch mit dem Briefträger an der Tür oder ein Einkauf im Inselsupermarkt bis zur völligen Erschöpfung an.

In der Grundschule zogen mich die anderen Kinder bald damit auf, dass meine Mutter nur erfunden sei, denn mein Vater holte mich jeden Tag ab. Saß bei Elternabenden als einziger Mann zwischen gestriegelten Ehefrauen, die ihm verständnisvoll zulächelten. Ihm mitleidig über den Rücken strichen. Ihn für jeden Firlefanz überschwänglich lobten. „Wie schön er die Jennifer heute angezogen hat. Und die süßen Zöpfchen!“, kniff eine dicke Frau mir auf einem Weihnachtsbasar in die Wange. Dabei trug ich ein ungebügeltes Leinenkleid, dass am Rücken kratzte, und dazu eine Wollstrumpfhose, die so klein war, dass ihr Schritt mir ständig zwischen den Kinderknien hing.

In ihren guten Phasen war meine Mutter wach und kaufte Unmengen an Süßkram ein, den sie verschlang, bis die Kanten ihres eckigen Körpers wieder etwas weicher wurden. Sie lud Freunde und Verwandte vom Festland zu uns ein. Abends am Tisch unterhielt sie alle mit ihren Geschichten, lachte laut, klatschte in die Hände, wenn jemand etwas sagte, das  ihr gefiel. Die Abende zogen sich bis in den Morgen, denn sie ließ niemanden nach Hause gehen. Wann immer jemand nach seiner Jacke griff, versperrte sie die Tür mit einem Spruch auf den Lippen oder zog ihn zu einem kleinen Tänzchen zurück auf den Wohnzimmerteppich. Bis alle ihre Schlüssel wieder in die Taschen sinken ließen und sich zurück auf ihre Stühle setzten.

Nur ich sah, wie sie sich in der Küche an der Zeile festhielt, sich die Schläfen rieb, die Hand auf dem Herzen. Wie sie danach ins Bett sank, die dreckigen Gläser noch auf dem Tisch. Die Tür hinter sich ins Schloss zog und sich Tage lang nicht mehr regte. Das Fett zwischen Wangenknochen und Haut wieder schmolz. Sie wieder in sich zusammensank. Als hätten ihre Gäste sie leer gesaugt. Als hätte sie jedes Wort, jedes Lachen, literweise Leben gekostet.

Mein Vater spielte unterdessen Memory mit mir und erzählte mir im Hochbett Gutenachtgeschichten, bis er darüber selbst einschlief. Am Morgen wurde ich vom Beben des Bettes wach, wenn er mit knackenden Gelenken die Leiter hinunter kletterte, rote Abdrücke von Kuscheltieren und Kinderhänden auf den Wangen.

Ein paar Kindergeburtstage  in fremden Häusern und ich begriff, dass andere Mütter anders waren als meine. Dass sie wach am Küchentisch saßen und nicht auf der Bettkante von ihren Männern zum Essen gezwungen werden mussten. Dass sie Kleider trugen statt Schlafanzüge. Dass sie mit ihren stabilen, robusten Körpern ihre Kinder hoch hoben, mit ihnen tobten, sie durch die Luft wirbelten.

„Warum muss Mama immer so viel schlafen?“, fragte ich meinen Vater eines abends, als er neben der Badewanne kniete und mir das Haar wusch.
„Weißt du das denn nicht?“, fragte er, als sei es immer offensichtlich gewesen.

„Öhöh.“, schüttelte ich den Kopf.

Eine Weile lang schwieg er, sah sich im Badezimmer um, als suche er nach etwas. „Deine Mama ist eine Meerjungfrau.“

Er begann eine Geschichte um ein Doppelleben zu weben: Wach dort unten bei den Fischen, schlafend hier oben bei uns, erschöpft vom Anschwimmen gegen die Wellen. Dabei nahm er meine Puppe vom Beckenrand und ließ sie durch das trübe Badewasser tauchen.

Bald zog der Tourismus auf die Insel. Die Nachbarschaft verkaufte ihre Häuser und zog auf das Festland. In den Gärten links und rechts knackten nun billige Sonnenliegen aus Plastik, mit wechselnden Urlaubern darauf. Ich spähte durch die lichte Hecke und sah Familien beim Frühstücken auf der Terrasse zu. Saß in meinem Kinderzimmer am offenen Fenster und lauschte ihren Gesprächen. Lachte, wenn sie lachten. Alle paar Tage kam eine Horde Putzfrauen, die sich mit schweren Wäschesäcken durch die Häuser arbeitete und ihre Spuren wieder beseitigte. Während sie die Böden wischten öffneten sie zum Lüften die Türen und  ich schlüpfte herein, schlich durch die Zimmer, bis jemand meine sandigen Fußspuren auf den nassen Fliesen entdeckte.

Ein Kurheim für verspannte Mütter mit asthmatischen Kindern eröffnete. Kinder, die Inhalatoren in ihren Taschen trugen, mit einem dicken Gummiband am Anorak fixiert, gegen das Verlieren im kalten Sand. Mädchen, die den Möwen ihren Zwieback hinhielten und dann kreischend davon rannten, wenn sie im Schwarm auf sie niedersegelten. Jungen, die husteten, wenn wir zu schnell über den Deich rannten. Kinder, die ich lieb gewann. Deren Rollkoffer laut auf den gepflasterten Wegen klackerten, wenn sie an den Händen ihrer Mütter zurück zur Fähre gingen.

Manchmal, wenn meine Mutter wach war, saßen wir am Strand. Sie umwickelte meinen Kinderkopf mit ihrem Schal und wir aßen Bonbons aus den Taschen ihrer Regenjacke. Immer wenn sie eine Tüte Eukalyptusbonbons gekauft hatte, rollte sie sie aus dem Papier und fluchte über den überflüssigen Müll. Dann legte sie sie nackt in ihre Jackentaschen. Dort wurden sie zu einem klebrigen Ball, an dem Fusseln und Haare hafteten. Sie brach mir eines vom Klumpen ab und ich schob es mir in den Mund.

Schlief sie, schlich ich auf Zehenspitzen über den Flur.

„Deine Mama ist wieder abgetaucht.“, flüsterte mein Vater, wenn ich von der Schule kam, und wir hielten uns giggelnd die Zeigefinger vor die Münder.

Ich malte Bilder von bunten Fischen, die Zahnspangen trugen, und schob sie ihr unter der Schlafzimmertür hindurch.

An einem Donnerstag stand meine Tante plötzlich in der Pause auf dem Schulhof. Sie ragte zwischen den wuselnden Kindern empor und ich wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie fuhr mich nach Hause, sagte kaum etwas, streichelte über meinen Kopf, bis mir die Haare aus den Zöpfen krochen. Zuhause saß mein Vater mit aufgequollenen Augen am Küchentisch. Erklärte mir, dass meine Mutter nun für immer im Meer leben würde. Dass sie nicht mehr zurückkäme. Ich rannte ins Schlafzimmer und tatsächlich lag ihr Körper nicht mehr zwischen den Kissen. Jemand hatte das Laken abgezogen, die Matratze war voller Flecken und das Fenster stand offen.

„Hör auf, ihr ständig diesen Schwachsinn zu erzählen!“, schimpfte meine Tante. Zog mich in eine weiche Umarmung, an ihre speckige Brust. Sie war so weich, ganz anders als Mama. Keine Kanten an denen man sich stieß. „Du weißt, was passiert ist, oder Jenny? Dass deine Mama nicht mehr sein wollte?“

Ich nickte hastig. Aber nein. Ich verstand es nicht.

Während wir auf das Essen warten, lacht mein Vater immer wieder so laut, dass es mir in der Stille des halbleeren Restaurants unangenehm wird. Ständig hält er die Hand seiner Frau auf der Tischdecke oder streicht ihr über den Rücken. Der Reis auf meinem Teller ist noch hart und ich kaue schwer. Auf der Soße schwimmt eine dicke Haut, die ich mit der Gabel hin und her schiebe, während David glücklicherweise viel redet.

Als wir uns vor ihrer Wohnung wieder verabschieden, scheint mir die Umarmung meines Vaters noch ein wenig enger, doch ich halte still.

„Das war doch ganz nett, oder?“, sagt David, als wir auf die leere Autobahn fahren. Ich beuge mich nach vorne und reibe mir mit der Hand die schmerzende Magengegend. Ein paar Ausfahrten später fährt er an einer Tankstelle ab und ich übergebe mich auf einen Streifen gefrorenes Gras. Dass ich das Essen wohl nicht vertragen hätte, höre ich ihn murmeln. Dabei tätschelt er mir die Schulter.

„Ich hol dir mal ein Wasser..“

„Nein, ich kann das selbst.“

Ich strauchle in das helle Licht des Tankstellenshops, kaufe einen Liter stilles Wasser. Als der Geschmack nach Erbrochenem sich nicht wegspülen lässt, kaufe ich eine kleine, grüne Tüte Eukalyptusbonbons. An einem Stehtisch neben den Zeitschriften drehe ich sie nacheinander aus dem Papier und lasse sie nackt in meine Manteltasche gleiten.

VITA

Lena Schätte, 1993 geboren, veröffentlichte 2014 ihren ersten Roman Ruhrpottliebe im Marlon Verlag. In den Folgejahren arbeitete sie als Psychiatriekrankenschwester im Ruhrgebiet, bis sie 2020 ein Studium des literarischen Schreibens am deutschen Literaturinstitut Leipzig aufnahm.  Zuletzt veröffentlichte sie die Kurzprosa Gebärmutter im Open Sewers Collective. Sommer 2022 nahm sie an der Grazer Romanwerkstatt für junge Literatur teil.  Zwischen Vorlesungen und Schreibkrisen arbeitet sie als Redaktionsmitglied am  Anthologieprojekt Tippgemeinschaft. Aktuell schreibt sie an ihrem nächsten Buch, pendelt zwischen ihrem sauerländer Zuhause und ihrer leipziger Schreibstätte. In Zügen immerzu auf der Suche, nach diesem einen verlegten Notizbuch.

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