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Die
Kleemannsche
Kolumne

Skizzen einer morgendlichen Berlinfahrt

Es heißt ja immer, der Geschmack ändere sich im Alter noch, jedoch kann ich mir kaum denken, dass ich dereinst einmal einer dieser typischen Greise werde, die mit Wonne und Lust stundenlang via Bahn durch die Pampa fahren, einfach um des Bahnfahrens willen. Da mag mich eine gnädige Alkoholvergiftung vorher dahinraffen – und falls darauf kein Verlass ist, hier ein kleines Stück Traumaverarbeitung: Begonnen hatte alles um kurz nach acht, als ich in Nürnberg den ICE bestieg. Da ich zu solch früher Stunde der frühen Frühe (von wegen flaumenleicht) allerdings kaum länger anhaltend zurechnungsfähig bin, seien hier ausschließlich ein paar kleine Impressionen der Zwischenhalte notiert. Der Rest ist Leiden.

1. Erlangen

Junge Leute steigen zu, sie lassen es sich allerdings nicht anmerken – also dass sie jung sind. Ich lerne: Man kann selbst Jeans wie Glockenröcke tragen, auf die Haltung kommt es an (auch die geistige). Ansonsten schleppen diese Individuen mehr Gitarren als Koffer herum und mit einem Gesicht wie nebbich Herr Jesus mit seinem Kreuze. Es muss schon schwer sein, das Studentenleben, insbesondere in Erlangen. Bang fahren sie in die Welt hinaus, bang kehren sie zurück, bang leben sie ihre Leben, bang werden sie sterben. Die reinste „Bang-Gang“, diese zarten, milchblassen Wesen.

2. Bamberg

Die Gesichter werden teigiger, die Köpfe (zumindest von der Masse her) schwerer und dann und wann macht man den glasig, traurigen Blick der Säufer am Bahnsteig aus. Zusteigen tut kaum einer, der Bamberger will nicht weg, man hat schließlich den Reiter, die Hörnchen und den Ruhm einer zeitweiligen baierischen Hauptstadt. Nur die Fremden lässt man gehen – die Erlanger Fraktion zieht den Sonnenschutz vor den Fenstern herunter: alles zu katholisch hier. Na dann, Prost.

3. Erfurt

Über Erfurt weiß ich leider so gar nichts neckisches zu berichten, weil sich mitten im schönsten aus-dem-Fenster-auf-den-Perron-schauen eine durchaus breite, ansonsten vornehmlich graue Frau im grauesten Alter neben mich auf den freien Platz setzt. Ohne zu fragen! Man verstehe mich recht: Ich bin gar nicht für Koffer auf den Sitzen und würde niemals jemandem einen Platz vorenthalten, aber eine freundliche Anfrage, oder wenigstens ein knapper Gruß scheint mir doch das gebotene Mindestmaß an Höflichkeit. Nun ja, so viel zu Erfurt – wieder einmal alle Vorurteile bestätigt.

4. Leipzig

In Leipzig steigen alle Erlanger Pastoral-Hasis mitsamt Gitarren und Fußkettchen aus und nun wird mir auch ihr Begehr klar: Mission der viel zu lange heidnisch gehaltenen Ossis. Glück auf, ihr frommen Gotteskinder und auf nimmer Wiedersehen! Ansonsten: Im Osten nichts Neues. Alles noch immer so trist und grau und heruntergekommen und ungastlich wie eh und je, ganz egal, ob ich aus dem Fenster oder auf den Platz neben mir blicke. Da kann die Sonne noch so herzerwärmend scheinen, das nutzt alles nix.

5. Bitterfeld

Allhier steigt die Frau neben mir aus (wo sonst!) und ein eben zugestiegener Franzose setzt sich auf den freigewordenen Platz, natürlich auch ohne die geringsten Spurenelemente von Höflichkeit (wobei er vielleicht glaubt, dass das von ihm erwartet wird). Ich höre derweil etwas leichtfüßigen Jazz und beschäftige mich mit der hochinteressanten Frage, was ein offensichtlich herumtouristender Franzose ausgerechnet in Bitterfeld zu finden glaubte. Fragen, Fragen, nichts als Fragen, die mir rasch vergehen, als eben dieser Nebenmann ausdauernd zu telefonieren beginnt und dabei ein Organ offenbart, das einer Jazzflöte in Puncto strengster Nervigkeit in nichts nachsteht.

Resümee

„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen“, pflegte meine Oma zu sagen. Wie wahr, wie wahr! Zwar wünsche ich mir manchmal, ich würde etwas seltener Erzählwürdiges erleben (wobei sich über würdig streiten lässt), jedoch einen Vorteil haben all diese Zumutungen einer Bahnfahrt: Sie Stimmen einen bestmöglichst auf die üblichen Berliner Wahnsinnigkeiten ein, die man in der Fremde rasch vergisst und deren plötzliches Hereinbrechen durch diesen fließenden Übergang etwas gemildert wird. Freilich, bei Verspätungen wird’s kritisch, aber auch die sollte man endlich als ausschließlich therapeutische Amtshandlung begreifen lernen.

 

Von uns genötigt, den Versuch einer kleinen Vita zu wagen, beschreibt Kleemann sich wie folgt.

Hans Kleemann, geboren am 25. VIII. 1995 in Dinkelsbühl, hat nichts gelernt und nichts abgeschlossen, denn er glaubt zu wissen, was er wirklich kann: Chansons komponieren und kleine, feine Kolumnen, Gedichte und Kurzromane zu schreiben. Wenn das Eine nicht funktioniert, dann hofft er auf das Andere, das wechselt wochenweise und darum kann ihn auch
Corona nicht unterkriegen: Er hat im Zweifelsfall gute Nachlassverwalter. Im Übrigen nimmt er sich gar nicht derart ernst, wie man meinen mag und tut sogar mitunter so, als besäße er Selbstironie. Man sieht: Er muss Künstler sein, andernfalls wäre er ein Fall für genauere Untersuchungen.

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