Eine Rezension von Rahel Wälzholz
Inhalt
Anselm Nefts Auftakt zu „Späte Kinder“ könnte näher und intimer an der Protagonistin Sophia kaum sein. Die Leserinnen und Leser lernen die Kunsthistorikerin, die ihre Karriere geopfert hat, um sich ihrer Tochter zu widmen, im Moment des Erwachens kennen. Noch schwebt sie in der Welt zwischen Schlaf und vollständigem Bewusstsein, wo sie sich glücklich und frei wähnt. Sie genießt jeden Atemzug, fühlt sich leicht und eins mit ihrer Umgebung. Ewig könnte sie so weiter existieren oder einfach damit aufhören. In diesem Moment erwacht sie. Ihre Brust schnürt sich zu, ihr Körper wird schwer, sie fühlt sich gefangen. Vor nicht einmal drei Wochen hat Sophia erfahren: Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs und bestenfalls noch neun Monate zu leben. Ihr Mann Marcel liegt neben ihr. Er weiß noch nichts von ihrer Diagnose, niemandem hat sie davon erzählt, ist selbst noch dabei, zu begreifen, was die Endlichkeit ihres Lebens bedeutet. Marcel tastet nach ihr, will mit ihr schlafen. Sophia überlegt, ob sie ihn abweisen soll, lässt es dann aber. Sie bringt sich nicht ein, hängt stattdessen ihren Gedanken über die Beziehung nach, in der sie sich einsam und nicht in der Lage fühlt, mit ihrem Mann, dem sie die Rolle als Vater nicht zutraut, über ihre Diagnose zu sprechen. Und doch findet sie auch Trost in der festen Routine, nach der der Geschlechtsverkehr seit Jahren abläuft und auf die sie sich verlassen kann.
Kurz darauf fährt Sophia zu ihrem Elternhaus, um gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder Thomas den Haushalt der kürzlich verstorbenen Mutter aufzulösen. Schon die Fahrt dorthin überfordert sie, ihre Gedanken kreisen. Wieder fühlt sie diese Einsamkeit, es ist ihr, als wäre es nicht sie, die stürbe, sondern die Welt um sie herum. Sie sehnt sich nach Zuwendung. Seit siebzehn Jahren harrt sie in einer Beziehung aus, in der Sex nicht Liebe und Nähe bedeutet, sondern einer Eheverpflichtung gleichkommt. Einst hat sie auf ihre Karriere verzichtet, damit es Mann und Kind an nichts fehlt. Sophia ist außerdem die umsichtige, verantwortungsvolle Tochter gewesen, die der eigenen Mutter in der letzten Zeit ihres Lebens nicht von der Seite gewichen ist, nur um ein wenig von deren Liebe zu erhaschen. Jetzt, da ihr Leben enden wird, hat sie das Gefühl, es verschwendet und nichts erreicht zu haben.
Sophia gegenüber steht ihr Zwillingsbruder Thomas, in dem ein nicht minder schwerer Gefühlsturm tobt. Als wir Thomas kennenlernen, ist er seinerseits gerade auf dem Weg in das gemeinsame Elternhaus. Er hat sich kurz zuvor von seiner langjährigen Partnerin Kathrin getrennt, um mit einer etwa 25 Jahre jüngeren Frau zusammen zu sein. Einer Studentin, scharfsinnig, aufstrebend, die die Karriere noch vor sich hat. Nun macht er sich Sorgen, wie Sophia, die mit Kathrin befreundet ist, die Nachricht auffassen wird. Er fühlt sich klein neben seiner Schwester, die schon früh geheiratet hat und ein bürgerliches Leben führt. Neben seiner neuen Freundin, Rabea, fühlt er sich auch klein. Insgeheim weiß er, dass diese Beziehung nicht von Dauer sein kann. Wie ein Teenager sieht er ständig auf sein Handy, wartet auf eine Nachricht von ihr. Er versucht seinen Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Statt direkt zum Elternhaus zu fahren, verbringt er den Abend in einer kleinen Kneipe und flirtet mit der Barkeeperin.
Thomas versteckt sich hinter seiner Intelligenz und seinem Wissen. Wenn Gefühle ihn zu überfordern drohen wird er unnahbar, nicht nur für seinen Gesprächspartner, sondern auch für sich selbst.
Im Elternhaus angekommen, machen Sophia und Thomas sich auf zu einer inneren Reise durch die Bilder und Erinnerungen ihrer Kindheit. Sie helfen einander, Erlebtes aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, ergründen, welchen Einfluss die Kindheit ihrer Eltern auf ihre eigene Kindheit gehabt hat. Dabei wechselt die Perspektive zwischen Sophia und Thomas. Bald etablieren die Geschwister ein Spiel, bei dem Thomas in die Rolle der Mutter schlüpft. Sophia bekommt die Gelegenheit, ihrer Mutter all die Fragen zu stellen, die schon so lange an ihrem Herzen nagen. Thomas, der immer das Lieblingskind der Mutter gewesen ist, antwortet stellvertretend für sie. Später revanchiert sich Sophia bei Thomas, und beantwortet seine Fragen an den Vater. Und Thomas, der von seinem Vater geschlagen worden ist und bis zu diesem Zeitpunkt nur Verachtung für ihn übrighatte, erkennt ein Stück von sich selbst in diesen Antworten.
Die sonst in der Rolle der starken, selbstbewussten Sophia Gefangene, wird im Verlauf ihrer Krankheit dünnhäutig und zerbrechlich. Eben dadurch bekommt Thomas die Gelegenheit zu wachsen und eine fürsorgliche Rolle einzunehmen. Am Ende des Buches hat Sophia mit ihrem Schicksal Frieden geschlossen. Sie ist innerlich gereift, und hat gelernt Kontrolle abzugeben. Sie entscheidet, ihre letzte Zeit in einem Hospiz zu verbringen und kümmert sich endlich auch um sich selbst. Sie begreift, dass nicht alles mit ihr endet, und gibt, durch ihren Rückzug ins Hospiz, den ihr nahestehenden Menschen schon vor ihrem Tod die Gelegenheit, einen neuen Alltagsrhythmus zu erproben. Thomas darf wieder der kleine Bruder sein, hat jedoch seinerseits zu mehr Stärke gefunden und kann sich nun seinen eigenen Gefühlen stellen. Mit dem Tod und der Trauer konfrontiert, gelingt ihm etwas, das er zu Beginn für unmöglich gehalten hat: Er begleitet die letzten Tage seiner Schwester im Hospiz. Er wird nahbar und öffnet sich dem Schmerz, aber auch der Schönheit der letzten Momente eines Lebens. Ein letztes Mal liest er Sophia das Märchen vor, das sinnbildlich für ihre Beziehung steht: Brüderchen und Schwesterchen. Und während in ihrer Kindheit Sophia ihm immer die Rolle des Rehs zugewiesen hat und sich selbst die Rolle des sorgenden Schwesterchens, darf er sich nun, in ihren letzten Tagen, um sie kümmern. Sie kann sich nun als Reh sehen.
Fazit
„Späte Kinder“ ist ein Roman, der Familiendynamiken beleuchtet, der ergründet, wie unsere Kindheit und die Kindheit unserer Eltern sich auf unser Leben auswirken. Ein packender, mitreißender Roman, der trotz der Thematik nicht trostlos oder dramatisierend daherkommt. Es ist nicht nur ein Roman über das Sterben, sondern auch ein Roman über das Abschiednehmen von Konzepten und Glaubenssätzen.
„Wer bin ich, wenn ich nicht mehr gut aussehe?“, fragt sich Sophia im Verlaufe ihrer Krankheit. „Wer bin ich, wenn ich nichts mehr leisten kann? Wenn ich nicht mehr auf Großartigkeiten in der Zukunft bauen und keine Mutter und keine Ehefrau mehr sein kann? Wer bin ich, wenn ich gebrechlich, krank, geschwächt, hilfsbedürftig, hässlich, erschreckend oder bemitleidenswert bin? Wer bin ich, wenn mir alles genommen wird, über das ich mich mein ganzes Leben lang definiert habe?“
Diese Fragen erschüttern – auch gesunde Menschen. Doch gleich neben dem Abgrund, der darin offenbar wird, liegt auch etwas Tröstliches. Wer alle Rollen abstreift, die er sich auferlegt hat, wem es gelingt, aus Familiendynamiken auszusteigen und über Generationen vererbte Glaubenssätze loszulassen, ist, wenn all das von ihm abfällt, frei. Dann erst eröffnet sich die Chance, nicht mehr der Mensch zu sein, als der man sich definiert hat, sondern der, der man in seinem Kern wirklich ist.
Anselm Nefts „Späte Kinder“ ist meine uneingeschränkte Leseempfehlung.
Rahel Wälzholz wurde 1985 in Heide (Holst.) geboren und ist in Eutin aufgewachsen. Schon früh fand sie ihre Begeisterung für das Theater. Besonders die Seitenfächer interessierten sie. 2002 besuchte sie ihren ersten Clownsworkshop bei David Gilmore. Nachdem sie sich einige Jahre im clownesken Bereich ausgetobt und fortgebildet hatte, widmete sie sich ab 2007 dem Figurentheater. Auf unzähligen Seminaren lernte sie das Bauen und Spielen von großen und kleinen Theaterfiguren und stand unter anderem mit den selbstgeschriebenen Stücken „Der Kistenmann packt aus“ und „Das verfluchte Taschentuch“ auf der Bühne. 2012 entdeckte sie Fooling für sich, eine von Franki Anderson entwickelte Form des improvisierten Theaters, in der der Spieler den Archetypen des Narren verkörpert. Wieder begann eine Zeit des Lernens. In dieser Zeit entdeckte sie eine alte Leidenschaft wieder: Das Schreiben, Erzählen und Spielen von ungehörten Stimmen. Und so handeln heutige Geschichten von den Gefühlen der letzten Flasche Bier im Kühlschrank, die sich dem Mindesthaltbarkeitsdatum nähert, vom Leiden der Teppichfalte, auf der ständig herumgetrampelt wird, oder von dem alten Fachwerkhaus, dem die Kohlekumpel auf den Leib rücken.
Seit 2019 ist Rahel Wälzholz, die heute in Lübeck lebt, als freiberufliche Foolsfacilitatorin und Theaterpädagogin tätig. Außerdem ist sie freie Mitarbeiterin des Lübecker Stadtarchivs, in dessen alten Akten sie schon viele Inspirationen entdecken konnte. Sie ist Teil des Jahrgangs XV und schreibt an ihrem Debütroman.