ABGRÜNDE, ALLZUMENSCHLICHE
Im Grunde bin ich ja der bescheidenste Mensch auf Erden (lachen Sie nicht so dreckig), wenn da aber einer kommt und behauptet, meinen kleinen Ausführungen mangle es an literarischer Qualität, dann reagiere ich doch eher verschnupft. Was denn das Zaubermittel sei, das einen Text von bloßer Existenz zur Literatur adle, fragte ich bereits mit der Brille auf der Nasenspitze… Der Blick in menschliche Abgründe, meinte da mein Kritikaster. Ich zog vor, es bei einem ebenso säuerlichen wie überlegenem Lächeln zu belassen und dachte mir bloß meinen Teil.
Ihnen sei dieser Teil natürlich anvertraut: Wenn dem so wäre, dass Literatur sich über den Blick in menschliche Abgründe definierte, dann wären folglich Herrn Trumps Karriereratgeber und die Kohlprotokolle Literatur in höchster Vollendung, denn mehr Abgrund auf weniger Seiten ist kaum denkbar. Aber bitte, es liegt mir fern literarkritische Symposien anzuleiern (dafür fehlt mir einfach die Geduld) und so will ich mich ausnahmsweise recht demütig dareinfügen, ins Korsett der Erwartungen: einmal menschliche Abgründe, der Herr. Sehr wohl.
Abgrund I
Wie jeder echte Bonvivant pflege ich gegen drei oder vier Uhr nachts zu Bett zu gehen. Wie jeder echte Beamte pflegt mein Opa mindestens einmal in der Woche um zehn Uhr in der Frühe durchzuklingeln. Ich gehe nicht ran, weiß aber bereits, dass ich niemals mehr werde in diesen seligen Schlummer zurückfinden. Es läutet abermals. Aus purer Bosheit gehe ich noch immer nicht ran. Beim dritten Läuten erbarme ich mich und hebe ab. Jetzt stellt sich heraus, was längst bekannt ist: Wir haben uns nichts zu sagen. Man ruft nur eben ein paar Mal in der Woche seinen Enkel an, so ist das „bei uns“. Oder er weiß um meine lasterhaften Schlafzeiten und will mich ein bisschen quälen (alles rein pädagogischer Natur, er ist schließlich Beamter). Nachdem wir fünf bis sechs Minuten am Telefon demonstriert haben, was absurdes Theater ist, kommen wir zum traditionellen Abschlussritual: „Opa, könntest Du mir vielleicht zweihundert Euro vorschießen. Es geht um Leben und Brot“. Aber er hat schon aufgelegt, wahrscheinlich weil er weiß, dass es nie bloß beim Brot bleibt…
Abgrund II
Da man nun schon einmal wach ist und bereits gestern Nacht beschlossen hat, heute mal nicht zur Arbeit zu gehen (man ist schließlich keine Maschine und muss doch auch einen gewissen Ruf etablieren – Hauptsache im Gespräch, heißt es), beschließe ich feierlich meine Aufwartung in der Markthalle zu machen. Schnell den alten Wintermantel über den Schlafanzug gezogen und die roten Chucks dazu – fertig ist der Look, im Zweifel kennt einen doch keine Sau.
Aber welch Traurigkeit, welch Herzeleid: In der Markthalle haben bloß der Nudelstand und die übrigen Alternativbuden geöffnet. Keine Austern, kein Picboul – stattdessen Dinkelsachen, Crepes und schreiende Kinder. Ja ist denn schon wieder Montag? In der Tat – es gibt eben doch keinen Gott und wenn, dann ist der Sack wieder in Frankreich, da gibt es schließlich immer Austern und Weißwein… Bonjour Tristesse.
Abgrund III
Des Abends (immer schön literarisch bleiben) ist man zu einem kleinen Stelldichein geladen. Da der Tag kaum ödiger werden kann, fügt man sich in sein Schicksal und geht hin, vielleicht lässt sich daraus eine kleine Kolumne ätzen. Aber das Schicksal meint es wieder einmal gar nicht gut mit einem: Es ist ein Stelldichein mit Bespaßung. Erst liest eine Dame umfangreiche Gedichte darüber, wie schwierig es ist, sich niemals kurz fassen zu können, dann der obligatorische Text über Mütter auf dem Sterbebett von irgendeinem dieser Menschen, die alle aussehen, als würden sie Jorn heißen, und zum Finale noch eine ganz besondere Überraschung: „Die Kerstin ist Singer-Songwriterin, hat bisher nie öffentlich gespielt und gibt uns heute die Ehre ihres Debüts“. Was folgt, ist textlich eine Mischung aus Programmpunkt I und II und musikalisch sowieso indiskutabel.
Und dann gibt es nicht einmal ein Buffet!
Sie mögen daraus ersehen, dass mir die menschlichen Abgründe bestens vertraut sind, dass ich quasi unaufhörlich in sie hineinzusehen gezwungen bin und bloß aus lauter Menschenfreundlichkeit derart kleine, neckische Kolümchen verfasse, die das Elend nicht leugnen, sondern zu lindern trachten. Ich bin eben der bescheidenste Mensch auf Erden, meine Bescheidenheit hindert mich nur, es auszusprechen. Bitte, gern geschehen.
Von uns genötigt, den Versuch einer kleinen Vita zu wagen, beschreibt Kleemann sich wie folgt.
Hans Kleemann, geboren am 25. VIII. 1995 in Dinkelsbühl, hat nichts gelernt und nichts abgeschlossen, denn er glaubt zu wissen, was er wirklich kann: Chansons komponieren und kleine, feine Kolumnen, Gedichte und Kurzromane zu schreiben. Wenn das Eine nicht funktioniert, dann hofft er auf das Andere, das wechselt wochenweise und darum kann ihn auch
Corona nicht unterkriegen: Er hat im Zweifelsfall gute Nachlassverwalter. Im Übrigen nimmt er sich gar nicht derart ernst, wie man meinen mag und tut sogar mitunter so, als besäße er Selbstironie. Man sieht: Er muss Künstler sein, andernfalls wäre er ein Fall für genauere Untersuchungen.