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Stipendiatin
im
Jahrgang XVI

Wir gratulieren von Herzen Leh-Wei Liao, unserer neuen Stipendiatin im Jahrgang XVI.

Liaos Text „Scharf marinierte Hot Wings und mild gewürzte Filet Bites“ brilliert durch eine ungemein dichte Atmosphäre und poetische Sätze wie z.B. „Ein solcher Ort gehört eher gedacht als gesehen“. Die Autorin beweist ein überaus feines Gespür für die Brüche in der Psyche ihrer Figuren. Die Abgründe in Liaos Ich-Erzählerin lauern eben dort, wo das formale Denken zu einem Ende kommt und ein vor ihr selbst verborgenes Gefühl in Bildern und Nebenbei-Beobachtungen aufschimmert. In einer scheinbar intakten Welt blitzt – auch für den Leser – hinter den Fassaden etwas auf, das ein Leben sein könnte.

Im folgenden lest ihr den von der Schreibhain-Jury ausgezeichneten Text:

Leh-Wei Liao wurde am 21.02.1993 als Kind taiwanischer Eltern in Göttingen geboren. Sie studierte in Köln Humanmedizin und war anschließend drei Jahre lang als Ärztin tätig -zuletzt in der Psychiatrie- bevor sie beschloss, ihrer Kreativität mehr Raum zu geben.

Inzwischen studiert sie Bildende Kunst in Kassel und verfasst Prosa und Lyrik, die sich mit dem Spannungsfeld zwischen dem Ideal der Liebe und ihrem pragmatischen Korrelat in einer (Paar-)beziehung auseinandersetzen. Ihre Texte sind Suchbewegungen und behandeln (zwischenmenschliche) Ambivalenzen und unbewusste Sehnsüchte.

Scharf marinierte Hot Wings und mild gewürzte Filet Bites

Ich wollte aufhören, fremdzugehen. Aber als Jan mir schrieb und ein Treffen vorschlug, ließ ich alles stehen und liegen und stieg in die volle Feierabendbahn.

Es war bereits so dunkel, dass ich bei dem Versuch, aus dem Fenster zu schauen, nur mein eigenes müdes Spiegelbild erblickte. Dahinter zogen Felder mit zahlreichen Strommasten und wenigen Lichtern an mir vorbei. Die Strecke zwischen Köln und Bonn fühlte sich immer länger an, als sie war. Unsere Affäre ging schon eine Weile.

Er war groß, blond und sportlich. Seine Augen hatten eine undefinierbare Farbe zwischen blau, grau und grün. Auf seinem Datingprofil hatte er nicht gelogen. Höchstens, dass er als Körperstatur normal angab, während er offensichtlich athletisch war. Tiefstapler kannte ich wenige. Niemanden außer ihm, wenn man es ganz genau nahm.

„Hast du Hunger?“, begrüßte er mich.

Ja, ich hatte Hunger. Ich hatte Hunger auf flambierte Lammlachse, zarte Entenbrust mit Orangensauce oder ein einfaches Coq au Vin. Nichts davon schlug ich vor. Stattdessen liefen wir an einem KFC in der Innenstadt vorbei, in dem wir uns einen friends bucket holten, um uns damit an den Rhein zu setzen. Es war ein ungewöhnlich lauer Oktoberabend. Mein Freund Henry würde nicht glauben, dass ein Abendessen mit mir aus einem Pappeimer voller frittierter Hähnchenteile bestehen konnte. Wenn wir essen gingen, gönnten wir uns üppige 5-Gänge-Menus mit Weinbegleitung und ich redete über die gewagte Peer-Gynt-Inszenierung und die letzte Anselm-Kiefer-Ausstellung. Ich redete über die Authentizität von Doris Uhlichs Choreographie und Siri Hustvedts poetischer Logik. Er hing an meinen Lippen und ich hatte furchtbare Angst, die Faszination in seinen Augen zu verlieren.

So richtig lernte ich Henry erst kennen, als ich seine Eltern zum ersten Mal beim weihnachtlichen Käse-Fondue traf. Er war sehr nervös, was wiederum mich nervös machte. Zur Begrüßung reichte ich ihnen einen sorgfältig ausgesuchten Pinot Noir vom Château L’Évêque, über dessen vermeintliche Kostspieligkeit sie sich ungeniert freuten. Ich merkte schnell, was er über mich erzählt haben musste. Umgekehrt hatte er mich im Vagen gelassen. Seine Mutter hatte sich für den Anlass in Schale geworfen, so gut sie konnte. Aber das Puder auf ihrer trockenen Haut hob ihre Falten hervor und die schillernde Farbpalette auf ihren Lidern betonte weniger ihre wässrig blaue Irisfarbe als vielmehr ihren sozialen Status. Am Tisch entfuhr es ihr mindestens zweimal, wie teuer das Fondue-Set gewesen sei, sodass ich fast anbieten wollte, mich finanziell zu beteiligen. Sein Vater drehte versehentlich die Heizung zu, als wir den Raum wechselten und erntete einen abfälligen Blick von Henry. Sie taten ihr Bestes, ihre Alltagssparsamkeit hinter einer lässigen Fassade zu verstecken, aber es gelang ihnen nicht. Vielleicht war die schroffe Haltung seinen Eltern gegenüber unfair. Aber irgendwo verstand ich ihn. Verstand die Wut, die sich immer wieder in derselben Vergeblichkeit verlief. An jenem Abend war ich seltsam gefangen zwischen dem Triumph, ihn durchschaut zu haben und einem Mitgefühl, das an Liebe grenzte.

Es war Henry, mit dem ich scharf marinierte Hot Wings und mild gewürzte Filet Bites auf einer niedrigen Steinmauer hätte essen sollen. Aber er wäre nur enttäuscht zu sehen, wie ich Hot Wings in Barbecue-Sauce ertränkte, um sie mir dann in den Mund zu stopfen. Er brauchte mich perfekt und makellos auf einem Podest, fern von jeder alltäglichen Banalität. Und ich verzieh ihm, weil ich die Idee von uns liebte. Wir waren cool und fancy, elegant und sorglos.

„Hast du Henry mittlerweile von deiner Bewerbung erzählt?“

Eigentlich wusste Jan es besser, als meinen Freund zu erwähnen.

„Es klappt wahrscheinlich eh nicht.“ Ein lapidarer Kommentar zu meinem permanent im Scheitern begriffenen Forschungsprojekt.

Er zuckte mit den Schultern. „Muss nicht zwangsläufig an dir liegen. Manchmal ist das eben so mit der Forschung.“

Es spielte keine Rolle, ob es an mir lag oder nicht. Es kam nur auf das Ergebnis an. Ich war nun seit zehn Monaten als Post Doc beim CECAD Research Center in Köln angestellt. In zwei Monaten lief mein Vertrag aus und bis dahin war ich hoffentlich am Institute for Medical Engineering and Science am MIT in Boston angenommen. Es wäre eine pro forma Bewerbung gewesen, wenn ich irgendetwas vorzuweisen gehabt hätte. Aber trotz persönlicher Sympathie brauchte mein Professor, der zuvor selber jahrelang am IMES gearbeitet hatte, etwas, das er schwarz auf weiß argumentieren könnte. Ich war so nah dran und dann wiederum doch nicht. Dieses diffuse Irgendetwas, dem ich seit Monaten hinterher rannte, trennte mich vom Einzigen, was wirklich zählte.

„Macht es denn einen Unterschied, ob du hier forschst oder in Boston?“, schob er hinterher.

„Am IMES, MIT“, korrigierte ich genervt. Ich redete seit Monaten kaum von etwas Anderem.

„Von mir aus. Was ist denn deiner Meinung nach der große Unterschied?“ Er sah mich herausfordernd an. Dabei war seine Frage zu absurd, um darauf zu antworten. Ich nagte die letzten Knochen ab und wischte meine Hände notdürftig mit beigelegten Zitrustüchern ab. Er sah mir kopfschüttelnd zu, stieß einen tiefen Seufzer aus und schwieg ebenfalls.

Ich verstand die Gleichgültigkeit nicht, mit der er sich durch seine eigene Masterarbeit manövrierte. Verstand generell Menschen nicht, die keine Ziele im Leben hatten.

Wir kannten uns schon lange. Ich musste ihm weder von meiner chronischen Schlaflosigkeit noch von den nächtlichen Panikattacken erzählen. Stattdessen konnte ich ihn um zwei Uhr morgens mit banalen Sprachnachrichten wecken, auf die er mit verschlafener Stimme antwortete. Und dann war alles ganz einfach. Wir trafen uns, holten am Kiosk je nach Jahreszeit Kaffee oder Eis, liefen über Rheinbrücken und landeten manchmal bei ihm und manchmal bei mir. Mit Jan konnte die Atempause von meinem Aufsteiger-Märchen eine Normalität sein, die zum Greifen nah war. Und dann wiederum gab es Momente wie diese hier, in denen er überhaupt nichts verstand. Wie es ihm ginge, fragte ich schließlich, obwohl ich mit den Gedanken noch an meinem Irgendetwas hing und zwanghaft die technischen Details meines Versuchsaufbaus durchexerzierte.

Gut gehe es ihm, antwortete er, er habe eine Frau auf der Arbeit kennengelernt.

Mir wurde plötzlich flau im Magen. Ich hatte vorhin zu schnell gegessen.

Sie war eine angehende Architektin mit haselnussbraunen Augen und einem herzlichen Lächeln. Sie plante nach ihrem Abschluss, in den Familienbetrieb einzusteigen. Wahrscheinlich war sie wenig ehrgeizig und unkompliziert und ganz und gar nicht so wie ich.

„Schön“, erwiderte ich und schenkte ihm ein aufrichtig gemeintes Lächeln.

Ich stellte keine Ansprüche an ihn, hatte mich nur leichtsinnig gewöhnt an unsere selbstverständliche Intimität und seine ständige Verfügbarkeit, an unsere Nachtspaziergänge und diese einseitige Exklusivität.

Wenn es ernster werden würde, würde er natürlich von mir erzählen, versprach er. Wir wären schließlich gute Freunde. Seine Hand streichelte kurz mein Haar, als hätte er für einen Moment vergessen, dass wir keine Liebkosungen in der Öffentlichkeit austauschten. Die Geste endete abrupt, noch bevor der warme Druck seiner Handfläche richtig spürbar wurde. Freunde. „Aber mal schauen“, fügte er hinzu. Ja.

Wir schlenderten den asphaltierten Weg zurück in die Bonner Innenstadt, spazierten am Teeladen vorbei, wo wir uns ganze Nachmittage durch Ceylons und Darjeelings probierten, bis uns schlecht wurde, und an der Tony-Cragg-Skulptur, die ihm jahrelang nicht aufgefallen war und ihn nun an mich erinnerte. Dort, wo jetzt ein Hollister war, befand sich früher ein uriges Café, wo ich mich über die Heublumen im Beilagensalat gefreut habe, während er das beste Landbrot aß. Wir hatten alle möglichen Phasen hinter uns. Haben uns klassisch gedatet und zwischen schweigsamen Sex-Dates und wochenlangen Kontakt-abbrüchen hartnäckig gestritten. Haben uns auf platonische Freundschaften geeinigt, nur um immer wieder im Hier und Jetzt zu landen, als würden wir uns überhaupt nicht von der Stelle bewegen. Es machte mir nichts aus, dass er datete. Es war gut für ihn.

Die Bahn auf der Rückfahrt war leer. „Komm doch noch vorbei“, schrieb Henry mir. Er war mit seinen Freunden in Leverkusen, in der sogenannten Garage. Ich wusste, dass er es nicht so meinte. Bevor ich die Garage das erste Mal sah, hatte ich sie in meiner Vorstellung zu einem Ideenlabor à la Steve Jobbs verklärt. Aber sie war, was sie war. Eine Garage mit einer fleckigen Couch und Bierkästen, die als Sitzgelegenheiten dienten. Mit modrigen Holzregalen voller Krempel. In der Mitte ein niedriger Couchtisch, über dem eine nackte Glühbirne hing. Es stank nach Männerschweiß und kaltem Zigarettenrauch. Ein solcher Ort gehörte eher gedacht als gesehen.Vielleicht sollte ich gerade deshalb müde, ungeschminkt und traurig dort aufkreuzen und seine Komfortzone mit meinem wildem Bedürfnis nach Trost und Halt stören. Aber nicht heute. Es war schon spät. Stattdessen würde ich zurück ins Labor fahren. Ich hatte alles stehen und liegen gelassen, als hätte ich gewusst, dass ich heute nochmal zurückkehren würde.

Zwischen der vorbeiziehenden Dunkelheit und meiner Reflexion eine Erkenntnis, die mir immer wieder entglitt: Jan hatte Recht. Boston war eine Projektionsfläche. Auch dort würde ich die meiste Zeit im halogenbeleuchteten S3-Labor stehen, mit dem monotonen Summen von Neonröhren und Zentrifugen im Ohr. Nachts in einer karg eingerichteten Einzimmerwohnung an die Decke starren und schließlich mit derselben Schlaflosigkeit durch die Gegend wandern. Mit einem anderen Mann, in einer anderen Stadt, auf Englisch statt auf Deutsch. Aber nichts würde sich ändern. Vielleicht schaffte ich es nur nicht, das Glück als solches zu erkennen.

„Gute Fahrt“, schrieb Jan mir. „Melde dich, wenn du gut angekommen bist.“

Ich hoffte insgeheim, dass auch er sich mit Nostalgie an unsere Nächte erinnern würde, in denen Stadtlichter mehr waren als nur Straßenlaternen und automatisch geschaltete Ampellichter, mehr als nur Reklame und das Zeugnis kollektiv einsamer Arbeitswütigkeit. Nächte, in denen die Möglichkeit in der Luft lag, dass wir mehr sein könnten, als Freunde oder eine Affäre oder ein anderes Wort, das uns nicht beschrieb.

Für einen Moment wollte ich umkehren und zurückfahren. Wollte, dass er mich überredete, nicht zu gehen. Ich tat es nicht. Denn ich wusste, er würde mich nicht aufhalten können.

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