
für seinen Romanauszug „Bombentage“
Wir gratulieren Christian Engel von Herzen zum Schreibhain Stipendium im Jahrgang XXII.
In der Jurybegründung heißt es:
„Engel überzeugt mit einer klaren, vorantreibenden Sprache. Der Text ist gleichzeitig zart und rau und so atmosphärisch geschrieben, dass man ihn nur in Bildern lesen kann. Kongenial spiegeln sich inneres Erleben und äußere Geschehenisse.“
Auszug aus dem Roman „Bombentage“ (AT) von Christian Engel
Geben wir es zu: Schon Wochen vorher lag der 24. April in der Luft und drehte sich über unseren Köpfen. Es war fühlbar, spätestens als Ende März der Frühsommer aus den Knospen platzte. Ein Druckabfall in der Nachrichtenlage. Ein zu früh geborenes Sommerloch, das Agamemnon, mein alter Yorkshire Terrier, noch vor mir zu spüren schien. Wenn ich in einer meiner Pausen mit ihm Gassi ging, blieb er manchmal stehen und winselte in der Hitze die weißen Wolken an. Als ahnte er, dass es nichts Gutes bedeuten konnte, wenn wochenlang die Unwetter ausblieben, die Schläfer schliefen und die Shitstorms nur die Richtigen verschlangen. Er hatte recht. Denn auch wenn der zweite Waffenstillstand im Donbass hielt, die Detonationen in meinen Träumen zu Glühwürmchen geschrumpft waren und in den Nachrichtentickern noch nicht mal die Preise explodierten – es waren Bombentage.
Ich erinnere mich. An dem Dienstag, bevor es passierte, zog ich mir gegen neun Uhr morgens, als Miriam aus dem Bad direkt in die Redaktion gestürmt war, eines der Shirts am Rand des Betts über den Bart. Agamemnon wachte wie immer gleichzeitig mit mir auf, ich machte ihm sein Lieblingsfrühstück (Hühnerherzen, Brokkoli und Leitungswasser) und brachte ihn dazu, seine Herztablette (Cardisure Flavour 1,25 mg) zu schlucken. Nachdem er am Ahorn vor dem Haus sein Geschäft gemacht hatte, hob ich ihn in die Tragetasche, schnallte sie mir vor die Brust, stieg auf einen der Leih-Scooter und fuhr – ohne einen Gedanken an die Deadline – los.
Der Wedding schwebte. Frühaufsteher in Shorts und Hotpants unter einem zum Platzen blauen Himmel. Ein Geruch von Tau, Holzkohle und Gras, den die Vornacht der Müllerstraße hinterlassen hatte und darunter der Beat meiner Reifen auf dem Asphalt. Ich hielt mich, wo es ging, auf dem rechten Streifen entlang der Gründerzeitbauten, strauchelte an parkenden Autos, Umzugslastern, Linienbussen und Skateboardern vorbei, während sich der Fahrtwind unter meinen Bermudas blähte und Agamemnon die Lefzen flattern ließ. Ich fuhr am Bayer-Komplex entlang, im Rücken des Bundesnachrichtendienstes die Chausseestraße hinunter, vorbei an den Bürogebäuden und Marmorverkleidungen der Friedrichstraße. Auf der Höhe von Unter den Linden bog ich ab und hielt geradewegs auf den Pariser Platz zu, wo ich meinen Hund aus der Tasche hob, ihn streichelte und mir an einem Stand einen Espresso kaufte. Im Schatten des Brandenburger Tors inmitten von Rentnergruppen und Schulklassen setzte ich mich auf eine Parkbank und zog – noch vor dem dritten Schluck aus dem Pappbecher – meinen Laptop aus dem Seitenfach der Tragetasche. Agamemnon starrte in die Luft. Über uns: Schwärme von Staren.
Die Deadline, die ich wochenlang vor mir hergeschoben hatte, war in greifbare Nähe gerückt: Noch vier Tage hatte ich, bis die Texte für die Broschüre fertig sein mussten. Vier Tage für 20 Seiten à 2.500 Zeichen (inkl. Leerzeichen) über die Speiseeisproduktion von IceCream Templin. Und obwohl ich noch nicht mal das Ausgangsmaterial – unter anderem eine Word-Datei voller mit Links versetzter Bürokratensätze, zwei PDFs über Speiseeisbereiter und Kältemaschinen – durchgelesen hatte, propellerte mein Geist hoch über den Dingen. Den Morgen über ging ich, das Gesicht in der Sonne, Agamemnon zwischen meinen Füßen, die Dokumente durch. Inmitten des Stimmengedränges vor dem Brandenburger Tor kopierte ich, was mir brauchbar schien zusammen und monsterte daraus die Rohfassung des ersten Kapitels. Mittags legte ich mich mit einem Hotdog vor dem Bundestag ins Gras, während der Hund Faltern hinterherjagte – langsamer als früher, aber immerhin: Die Medizin wirkte. Nachmittags machte ich weiter, hackte Schachtelsätze in verdaubare Häppchen und krempelte Passivkonstruktionen um, bis die Sonne tief über der Glaskuppel hing und Agamemnons Magen knurrte.
Als wir, eine lauwarme Brise im Rücken, wieder in den Wedding fuhren, erreichte meine Stimmung ihren Zenit. Nach all den Rückschlägen, der Orientierungslosigkeit und dem Stumpfsinn des vergangenen Jahrs spürte ich mich wieder auf Kurs. Ja, es stimmte, ich war nicht mehr nur Journalist, sondern, mindestens Teilzeit, Gebrauchstexter. Aber der Job war ordentlich bezahlt (200 Euro pro Seite!) und würde mir die Freiheit für Langzeitrecherchen und große Reportagen geben.
In diesem Wissen ertrug ich es zum ersten Mal seit Monaten wieder, nach Agas Abendessen mit Miriams Investigativ-Kollegen von der Morgenpost Shisha (Mango-Maracuja) zu rauchen und Falafel zu essen. Ich lächelte ihre ironischen Fragen nach meinem „PR-Job“ weg, weil mir klar war, dass ich bald Zeit für einen wirklich guten Text hätte, der mehr bewirken würde als ihre Undercover-Schnüffeleien. Weil langfristig nur Geschichten etwas verändern, nicht Fakten. Ich war so gut gelaunt, dass Miriam mir mehrfach ungläubig über den Kopf strich. Zurück in der Wohnung trieben wir es auf den Dielen.
Am nächsten Morgen – es war ein Mittwoch – wachte ich hustend im staubgrauen Licht eines Regenschauers auf. Kopfschmerz stemmte sich von innen gegen meine Stirn. Miriams Seite des Betts war verlassen. Regen rauschte an die Fenster, die wir offengelassen hatten, und alles roch nach Mango-Maracuja. Agamemnon kläffte, als ich die Tür zur Küche öffnete, wo er geschlafen hatte. Ich machte ihm Frühstück. Die Uhr neben dem Backofen zeigte, dass ich einen guten Teil meiner produktivsten Stunden verschlafen hatte: kurz nach 11 Uhr.
Ich setzte mich, weiter hustend, an den Küchentisch. Während ich mir zwei Löffel Smacks in den Mund baggerte, die nach Asche schmeckten, scrollte ich durch das Word-Dokument der Broschüre. Das erste Kapitel war nur zur Hälfte fertig. Ich hatte noch 18,5 Seiten vor mir und drei Tage. Nachdem ich den WLAN-Router abgeschaltet und mein Smartphone in Flugmodus geschaltet hatte, ging ich an die Spüle, warf mir mit beiden Händen Wasser ins Gesicht und klemmte mich mit nassem Bart vor den Bildschirm. Schon bei den ersten Sätzen, die ich redigierte – irgendetwas über „die Freiheit der Produktion von Carboxymethylcellulosen“ –, geriet ich ins Stocken. Ich hatte keine Ahnung, wie ich daraus einen auch nur entfernt verständlichen Absatz machen sollte. Ich rannte schwer keuchend, meine Lungen waren noch immer verrußt, in Flip-Flops durch den Regen, um mir einen Döner zu holen. Der Verkäufer in dem kleinen Laden sah beim Befüllen des Fladens fast durchgängig auf sein Handy. Zurück in der Wohnung schmiss ich meine durchnässten Klamotten ins Bad und legte mich nur in Unterhose mit dem Döner auf die Wohnzimmercouch. Ich hoffte, meine Lieblingskombination – Kalbsfleisch, Tomaten, Schafskäse – würde mein Bewusstsein oberflächlich beruhigen, damit es unterirdisch weiterwerkeln konnte.
Aber schon beim ersten Bissen stieg mir wieder der Mango-Maracuja-Tabak in die Nase und die Anstrengung, den letzten Abend wieder aus meinem Bewusstsein zu verdrängen, presste mich in den Schlaf.
Als ich die Augen aufmachte, breiteten sich Kalbsfleisch und Schafskäse auf meinem Oberkörper aus. Mein Uralt-Nokia, das ich für Notfälle herumliegen hatte, vibrierte so heftig, dass es von dem Beistelltischchen direkt in den Döner zu stürzen drohte, den ich beim Einnicken wohl fallen gelassen hatte. Ich schüttelte mich vor Ekel und wischte mich mit einem Taschentuch notdürftig ab. Ich wollte gerade die Sauerei auf dem Boden beseitigen (bevor Agamemnon, der in der Küche schlief, aufwachte), da musste ich doch einen Blick auf das Handy werfen. Ich hatte drei SMS und zwei verpasste Anrufe von Miriam. Noch bevor ich etwas lesen konnte, schickte sie mir eine neue SMS:
„hast du das gesehen?“
„was“, tippte ich.
„mach das internet an. das ist überall“
Weil ich nicht auf den Neustart des Routers warten wollte und mein Handy nach dem Abschalten des Flugmodus oft verrückt spielt, schaltete ich entgegen meiner Gewohnheit den Fernseher an und sah Rauch, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Ein bitterschwarzes Massiv aus Aerosolen, unter dem sich erst nach und nach die Umrisse einer Stadt abzeichneten. Dass es Paris war, bemerkte ich erst, als ich auf das Text-Laufband unter den Aufnahmen des TV-Helikopters achtete. Die Kamera zoomte tiefer und ich sah den roten Qualm über den Straßen des neunten Arrondissements, die Trümmer zwischen den brennenden Wracks auf dem Boulevard Haussmann. Verwackelte Handyvideos von grauen Menschen in der Schuttwolke auf der Rue de Magador. Ein Berg aus Betonbrocken, Stahlträgern, Kleidungsfetzen, Einkaufstüten, Teakholz, Glas und Schuhen, in dem Feuerwehrleute gruben. Die Innereien der Galeries Lafayettes. Und dann die ersten Videos der zertrümmerten Jugendstil-Kuppel, grobkörnig und dunkel, da der Rauch auch für die Drohnenkameras zu dicht war. Im BBC-Studio erklärte ein Rechercheur dem schwitzenden Moderator, dass die Ursache der Explosion noch nicht geklärt sei. Die sozialen Medien platzten vor Spekulationen, es könne sich um einen tragischen Unfall gehandelt haben, eine Gasexplosion. Damit zu Paris-Korrespondentin Jane Barker, die rückwärtsgehend an einer Menschenschlange vorbei in das Hôpital Lariboisière führte. Das Bild fokussierte auf Details. Eine Frau ohne Beine auf einer vorbei rasenden Trage. Ein weinender staubgrauer Junge auf den Armen eines Krankenpflegers. Eine alte Dame, die unter ihrem verrußten Federhut nickend zu sich selbst spricht. Und die als Meme berühmt gewordene Szene, wie ein Chirurg in Kopfhaube und blutigem OP-Kittel die Reporterin aus dem Gang brüllt („Fuck off, we don’t need you here!“).
Ich wusste, dass es ein Anschlag war, hatte es schon beim ersten Blickkontakt gewusst, intuitiv, zwischen Zwerchfell und Magen, wie die letzten Worte einer Reportage, die ich kannte, noch ehe ich begonnen hatte.
[…]Vita

Christian Engel
Christian Engel, geboren 1989, studierte Politik in Frankfurt a.M. und Brighton. Volontariat an einer Journalistenschule. Beiträge u. a. für FAZ, Spiegel und rbb. Er arbeitet als Redaktionsleiter einer Kommunikationsagentur in Berlin. 2021 gewann eine von ihm konzipierte Kampagne Silber beim Deutschen Preis für Onlinekommunikation.
Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften (u.a. Nagelprobe, Literaturseiten München). Ausgezeichnet mit dem Hauptpreis des Hessisch-Thüringischen Literaturforums. 2019-2020 Stipendiat der Dresdner Schreibwerkstatt mit Kurt Drawert. 2020-2021 Stipendiat des Romankurses der Bayerischen Akademie des Schreibens mit Sandra Hoffmann und Gunnar Cynybulk (Teilnahme mit einem anderen Romanprojekt).