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Literaten lauern auf Lebendmaterial – Das Literaturcamp 16 in Heidelberg

Heidelberg ist von der beschaulichen Literaturstadt zur wilden Literaturszene geworden, zumindest am 11. und 12. Juni 2016.

 

Von überall strömt die Branche zusammen. Wie ein Fluss das Meer sucht, suchen wir Buchmenschen den Austausch untereinander. Was auf dem Literaturcamp passiert, ist einer Mischung aus hervorragender Organisation im Vorfeld (Danke an Susanne Kasper und ihr Engelteam), Lust am Wagnis, Neues auszuprobieren und der Stimmung zu verdanken, die durch das Dezernat 16 rauscht und auch am späten Abend nicht abebben will.

Das Literaturcamp basiert auf dem Barcampgedanken. Alle Teilnehmer treffen sich auf Augenhöhe, sind gleichzeitig Sessiongeber und Zuhörer. Welche Sessions stattfinden, entscheidet sich vor Ort. Ob Workshop, Impulsvortrag, Diskussion oder eine geleitete Fragerunde zu einem Thema – alles ist dabei. Sogar Katzen und Kinder – nicht unbedingt in dieser Reihenfolge – und wenig logisch verkettet.

 

Neben meinem eigenen Mini-Workshop Dein Thema finden & Ideenarchive aufbauen (zum zweiten Teil kommen wir aus Zeitgründen kaum), darf ich als Regisseurin teilhaben an Nina Georges Figurenaufstellung mit Lebendmaterial. Wie herrlich einmal die Rolle wechseln zu dürfen! Denn als Schreibcoach weiß ich natürlich, dass Figuren ein Ziel brauchen und ein Dilemma, das ihnen im Weg steht; dass sie darüberhinaus in Beziehungen verflochten sind und ihre Rollen im Roman Funktionen haben, doch als Autorin wird all jenes Wissen zur Suchbewegung. War nicht vorher noch alles ganz klar? Was passiert, wenn wir mit unserer Geschichte ins Scheinwerferlicht treten? Apropos Scheinwerfer: Wir haben einen Theatersaal für uns, sogar eine kleine Bühne auf deren Stufen jetzt das Publikum sitzt, aus dem ich meine Protagonisten stellen darf. Ich werde schnell fündig: Manuel ist da – mein Manuel, der Archivar und spätere Schriftsteller. Jene Erzählstimme, die bald darauf, in persona verkörpert, auf einem Stuhl steht. Sie kann den Überblick über das Geschehen geben. Da ist auch Lilien, jene hochgewachsene Rothaarige mit den tiefblauen Augen und den Sommersprossen, deren Wahrnehmungsfähigkeiten nach dem Suizid ihrer Mutter erblühen wie Winterrosen. Und Tom? Tom bleibt blass, obwohl er ein klares Ziel verfolgt, nämlich ein Mädchen, das in seinen Träumen ihr Unwesen treibt, zu retten. Dass er nicht an Kontur gewinnt, hat natürlich nichts mit dem armen Darsteller zu tun, der sein Bestes gibt und sich doch überflüssig vorkommt; für den das Setting nicht stimmt. Fünfundzwanzig Minuten darf ich meine Figuren erleben, ihnen zuhören, sie befragen. Am Ende gibt Nina den entscheidenden Hinweis: “Wenn drei Figuren erzählen, trennst du sie auch voneinander.” Keine Aufforderung, aber ein Satz, der nachwirkt und Wellen schlägt in mir.

Nach dem Stellen ist vor dem Stellen. Ich besuche nicht sofort eine weitere Session, falle stattdessen in einen grünen Samtsessel und zücke Stift und Notizbuch. Wenn Lilien für die Verlusterfahrung steht, dann brauchen die Leser Hoffnung. Und wenn ich die Gesichter meiner Figuren betrachte, weiß ich auch, wer sie verkörpert. Der Stille. Der Beobachtende, der den Lauf der Welt von seiner Warte aus ruhig betrachtet und Gedanken spinnt und Handlungen aus Vorgefundenem. Der gegen den Tod die Erfindung setzt.

Stoff, der mich weitertreiben wird.

 

 

Der Abend nimmt wieder neue Fahrt auf, als wir über die Warengruppe 483 ins Gespräch kommen, erotische Belletristik und Sachbücher fallen darunter. Mit dabei Nina George, die als Anne West bereits in diesem Segment veröffentlicht hat und uns erzählt, dass auch ihre Bestseller „Stellen“ haben, also Passagen beinhalten, die erotisch sind.

Wir alle haben einen herrlichen Tag hinter uns und mittlerweile bereits das ein oder andere Glas Wein getrunken. Literaturcamps – das sei hier angemerkt – können herrlich albern sein. Ein Karnevalsverein ist eine sehr trübe Veranstaltung gegen die unsere. Nur Worte – egal welcher Sorte und welchen Klangs – kann ich nach der Nachtsession nicht mehr aussprechen, ohne Bezüge zu finden, die sie gar nicht hergeben. Überdies stellt sich die Diskussionsrunde durchaus ernsthaften Fragen: Was kann erotische Literatur sein und was wünschen wir uns von ihr? Immerhin ist Sexualität ein großer Teil des Lebens – auch unserer Figuren. Manuel sitzt neben mir und sieht mich mit großen Augen an. Er hat recht, er ist eine Denker- und Träumerfigur, seinen Leidenschaften habe ich bisher wenig Raum gegeben.

Jetzt will ich endlich entspannen, Manuel hin – Lilien her. Und so führen wir roséweingeschwängerte Gespräche, die doch wieder tief schürfen, Existenz und Wahrheit, Liebe und Glück streifen, fassen, verlieren und dazu – wie kann es anders sein – Zigaretten.

Da meine liebste Kollegin Susanne dem nächtlichen Treiben in der Altstadt entflohen ist, verbringe ich die Nacht damit, unter den Dächern Heidelbergs, dem Roman einer jungen Autorin zu lauschen, die genau Jenes schon umgesetzt hat, was wir uns von erotischer Literatur erhoffen. Die Sexualität zwischen dem Abgrund Leben angesiedelt, eine Brücke über den Tod, einen Augenblick Himmel – wenigstens Vergessen. Wer mehr dazu lesen will, findet unter Bordsteinprosa Einsicht ins Schaffen der Literatin.

Foto: Valentin Bachem  Litcamp-HD-206 von Valentin Bachem @creativcommons | Lizenz: CC-BY 2.0

Der Morgen danach mit Bordsteinprosa und Jasmin Zipperling

Ich gestehe, so wenig geschlafen wie in den Heidelberger Tagen habe ich schon lange nicht mehr: Vier Stunden in zwei Nächten, wenn ich großzügig rechne. Der Inspiration tut das keinerlei Abbruch. Dafür werden die Wortungetüme immer größer: Eine Brücke über den Tod… Meine Güte, ich wollte doch nur ein Literaturcamp besuchen.

Selten bin ich derart überrascht worden und nicht zuletzt deshalb hoffe ich auf eine Fortsetzung des Heidelberger Literaturcamp in 2017.

Und weil dies ein Schlusssatz sein könnte und mir Enden schwer fallen, wie allen Campteilnehmern, seien hier noch zwei Anmerkungen hinterhergeschoben:

 

Foto: Valentin Bachem Selim Özdogan @creativcommons / #litcamp16 /
Litcamp-HD-206 von Valentin Bachem | Lizenz: CC-BY 2.0 Selim Özdogan

Die Session von Selim Özdogan zum Thema Schreibblockaden und Kreativität hat mich nachhaltig beeindruckt. Einem so begabten Autor beim Denken zuzusehen, seinen Schleifen und Schwüngen zu folgen ist – auch außerhalb seines durchaus ernstzunehmenden Rats: „Schreibblockaden gibt es nicht“ – ein Hochgenuss.
Viel zu früh bin ich am Montag mit dem Wissen aufgewacht: Ich habe nur noch zwei Erzähler: Lilien und Manuel. Danke dafür Nina! Sorry, Tom! Du lebst weiter, nur leider nicht als Hauptfigur.

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