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Erster Platz beim Schreibhain-Wettbewerb

Das Schreibhain-Stipendium geht an Katja Hensel

Die Jury hat getagt und die Schreibhain-Stipendiatin für den Jahrgang XI gekürt. Ganz herzlich gratulieren wir Katja Hensel!

Mit dem Romanauszug Youtopia zeichnen wir eine Erzählstimme aus, die Sogwirkung entfaltet. Wir sehen eine Figur, die sich in der trostlosen Welt eines Möbelhauses einquartiert, sich dem Geschehen vor Ort aussetzt und es aus der Beobachterperspektive wahrnimmt. Um all das auszuhalten, nutzt und entwickelt sie eine Technik, die es ihr ermöglicht Ausschnitte aus der Realität zu wählen, Lücken zu füllen und Dialoge abweichend zu untertiteln. Was dann entseht, erkundet Katja Hensel mit sprachlich und formal modernen Mitteln.

Hier der prämierte Auszug aus dem Roman mit freundlicher Genehmigung der Autorin:

Youtopia – ohne uns könnten wir hierbleiben

1. Kapitel
Ich wohne auf Malaga, seit zwei Wochen. Für mich ist das eine lange Zeit. Länger war ich im letzten Jahr nur in Oslo. Fast einen Monat war ich dort, bis mir die Lichtverhältnisse auf die Synapsen gingen. Danach Nizza und Amsterdam. Nein, erst kam Korfu. Oder Kreta? Egal. Die Orte verschwimmen zu einem großen Raum. Und in diesem Raum wohne ich. Meine aktueller Standort in diesem Raum ist also Malaga. Billig, hässlich, ungemütlich. Ideale Grundlage für Filme, die keiner sehen will. Diesen hier zum Beispiel:
Eine Frau, mindestens fünfzig, kommt von rechts ins Bild. Sie trägt keinen BH, das Geld hat sie in eine Eidechse investiert, die ihr als Lackhandtasche gegen den obersten Speckgürtel schlägt. Sie dreht sich zu ihrem Mann, der jetzt ins Bild kommt. Er trägt eine Baseballmütze mit der Aufschrift „100 Jahre Backhandwerk“.

Frau: Das ist jetzt Malaga. Das ist doch wohl nicht dein Ernst.

Mann: Was stimmt denn jetzt wieder nicht?

Frau: Also wirklich.

Mann: Was denn?

Die Frau haut ihm die Eidechse in die schlaffe Seite und geht weiter. Der Mann schüttelt den Backhandwerkerkopf und trottet hinterher.

Malaga ist für die Unterschicht gebaut, aber man ist erstaunt, wer alles auf Malaga abfährt. Ausgelaugte Paare mit überdrehten Kindern, Hipster auf Ironie-Koks – Mega-Trash! Geiler Scheiß! – , verarschte Alte mit Mini-Rente und Leute, die sich die Malediven locker leisten könnten, aber jetzt schon für den Absturz nach dem Höhenflug proben. Billig zieht alle an aus allen Richtungen. Und mittendrin ich. Ich guck mir das an in Dolby Surround. Ich habe mir eine Technik draufgeschafft, die mir jedes Idiotenfestival vom Leibe hält. Ich sehe es mir an wie einen Film. Ich zoom ein Detial an oder stelle alles unscharf, ich dreh den Ton runter, denk mir Untertitel aus, wenn das Original zu nichts zu gebrauchen ist. Manchmal schalte ich komplett ab. Das klingt alles einfach, ist aber das Ergebnis harten Trainings. Vor einem halben Jahr noch hätte ich es hier auf Malaga nicht ausgehalten. Ich wäre durchgedreht, abgehauen oder einfach nur ein zynisches Arschloch geworden. Aber inzwischen kann ich es wegrücken. Ich baue mir eine Lücke zwischen mir und dem Rest, da fällt dann rein, was ich nicht gebrauchen kann. Also fast alles. Mir ist dann alles egal. Und ich bin allen egal. Das ist ein geradezu metaphysisches Gefühl. Ein Zustand, für den ich noch kein passendes Wort gefunden habe. Bis ich es habe, nenne ich den Zustand meta-zynisch. Word in progress wie gesagt. Heute bin ich allerdings in keiner Meta- Verfassung. Gestern auch nicht. Denn seit vorgestern ist Irma weg.

Ortswechsel. Schnellrestaurant. Im Hintergrund eine Uhr mit Messer- und Gabelzeigern: Halb zwölf. Im Vordergrund eine mittelalte Frau in buntgemustertem Mantel. Sie sitzt an einem Bistrotisch, kleine schwarze Klumpen in den Wimpern, ihre Haare sind stark bearbeitet, eine Frisur ist es trotzdem nicht. Sie ist von der Natur eigentlich als Schönheit vorgesehen, aber irgendetwas ist da mit den Jahren schiefgelaufen. Sie kippelt auf der Kante ihres Stuhles und spricht direkt in die Linse.

FRAU Es ist so schön zu sehen, dass es dir gut geht, mein Schatz. Dauernd fragen mich die Leute: Wo ist denn ihr Sohn, ist er ausgezogen? Macht der gar kein Abi? Oder ist er etwa krank?
Sie haucht dramatisch und reißt dazu die Augen auf.
FRAU Ich sage dann immer : Mein Sohn macht Abi, Studium und Ausbildung gleichzeitig. Dann gucken sie nur doof und sagen nichts mehr. Ist doch wahr! Turbo-Abi, Turbo-Studium. Und mit Anfang zwanzig stehen sie da, brav und naiv und vom Leben keinen Schimmer. Die richtige Ausbildung, das wissen wir doch alle, die findet immer noch da draußen statt.
Sie fuchtelt mit dem Löffel Richtung Fenster und schaut kurz eine Spur zu verloren hinaus, fängt sich aber sofort wieder.
FRAU Du warst schon immer anders, Enno, Gott sei Dank. Schon als kleiner Junge. Hast alles immer anders gemacht als der Rest, immer neben der Spur, und am Ende vielleicht nicht immer der Beste aber der Originellste. Das ist unsere Familien-DNA, wir sind ein Haufen Anarchos, schon immer gewesen. Wusstest du, dass dein Urgroßvater früher am liebsten in Frauenkleidern durch die Wohnung… –

Ich fahre den Ton runter, ziehe die Kontraste raus. Meine Mutter hat sich in eine Sphäre geredet, wo bald alles nur noch assoziativ zusammenhängt. Ich sehe in ihre Richtung wie auf eine Leinwand, lass sie in ihrer Begeisterung davonfliegen und mache Pause. Irma. Ich frag mich, warum ich sie nicht runterdimmen oder gar ausblenden kann. Ich habe es ein paar mal versucht, geht nicht. Sie bleibt ein Ausrufezeichen im Raum, auch wenn sie kein Wort spricht. Vorwurf. Euphorie. Krise. Irgendwas ist immer und immer ist es extrem. Eine Frau am Anschlag. Ein Mädchen am Anschlag. Eine Frau. Passt beides nicht, Irma ist dazwischen. Extrem dazwischen. Am besten passt Anschlag. Ich hebe mit der Gabel Irmas Erdbeertorte an, die ich für sie nicht gegessen habe. Wenn ich den roten Batzen von unten etwas lüfte, matscht er nicht so schnell durch. Wer weiß, vielleicht kommt sie doch noch zurück.

Immer noch Schnellrestaurant. Das Messer und die Gabel zeigen jetzt beide auf die Zwölf. Die Frau hat die haltlose DNA -These längst hinter sich gelassen, bereits mehrere andere Themen durchflogen und umkreist nun die Labilen und Looser im entfernten Bekanntenkreis.
FRAU Der Sohn meiner Kollegin ist letzte Woche in die Psychiatrie gekommen, wegen zu viel Computer. Die Tochter von Marc – Marc, du weißt Marc – hat Magersucht, weil die alle diesen Druck nicht ertragen.
Sie beugt sich ruckartig über den Tisch, den Teelöffel im Mund.
FRAU Was ist denn damit, schmeckt er nicht?
Sie zieht den Löffel aus dem Mund und drückt ihn in die Erdbeertorte. Filmriss.

Ich schlage die Hand meiner Mutter weg, heftiger als ich wollte, aber nicht heftig genug, um damit wieder in den Filmmodus wechseln zu können. Sie wirkt noch erschrockener als ich, wirft sich zurück auf den Stuhl und knallt den Löffel auf den Tisch. „ Geht‘s noch?“ Das junge Paar mit Baby am Nebentisch sieht rüber, halb erschrocken, halb dankbar für die Störung ihrer Langeweile.
„Sag doch einfach ‚Nein‘, ich bin nicht taub. Und du isst ihn doch sowieso nicht. Sitzt da seit einer Stunde, sagst nichts, isst nichts. So eine Verschwendung! Jedes Jahr werden zig Tonnen Lebensmittel – Ich könnte heulen.“ Sie heult. Das Baby quietscht. Endlich passiert etwas. „Erdbeertorte im Winter. Schwachsinn. So ein Schwachsinn, dieser ganze Konsumterror. Dieses ganze Möbelhaus, deprimierender Schwachsinn. ‚Ruhm for you‘ Was soll das denn sein bitte? Ruhm for you!“ Sie fuchtelt mit dem Katalog herum, den sie wie ein Requisit aus ihrer Tasche zieht. Das Baby streckt die Ärmchen danach aus.

Meine Mutter ist entweder in einer anderen Schicht der Atmosphäre unterwegs oder am Boden. Wenn sie der Enthusiasmus davonträgt, kann man sie mit ihren Bildern allein lassen. Wenn sie am Boden ist erst recht. Da passiert nichts. Da liegt sie tagelang im Bett, schaut Netflix und trinkt Primitivo. Nur der Abflug und die Landung, die sind heikel und brauchen etwas Beistand. Von einem plötzlichen Absturz erholt sie sich monatelang nicht, das ist dann auch für mich als Rest der Familie kein Spaß. Filmmodus kann ich also erst einmal vergessen. Sie ist jetzt im Sinkflug und da greifen die jahrelang trainierten Reflexe: Ich bin der Lotse im Tower und passe auf, dass sie halbwegs sicher runterkommt. Kein Zusammenstoß. Keine Turbulenzen.

„Es ist ein Wortspiel. Mama. Ruhm. Raum. Room.“

„Das weiß ich auch, Enno. Danke.“

„Möchtest du noch etwas essen? Ich hol es dir.“

„Ich will nichts essen, ich will, dass du mit mir redest! Seit einem Jahr bist du jetzt unterwegs, ich weiß nicht, wo du bist, ich weiß nicht, was du machst, ein Jahr! Wann kommst du endlich nach Hause?“

Nie. Das kann ich natürlich nicht sagen als Lotse. Ich versuche es mit stabilisierendem Schweigen.

„ Warum sprichst du nicht mit mir? Was habe ich dir denn getan? Was?“

Natürlich nichts. Wenn ich das sage, hakt sie nach, bis ich einen Fehler mache und dann stürzt sie katastrophal ab. Darum sage ich es lieber indirekt, also nichts. Das wird sie schon kapieren.

„Wie kann man so zynisch sein! Spricht nicht, wird grob und dann grinst er auch noch!“ Sie sagt das tatsächlich zu dem Baby, ihr einziger aufmerksamer Zuhörer. Ich grinse? Tatsächlich. Kein Grinsen, eher ein Muskelreflex, den ich nicht unter Kontrolle habe. Gesicht entspannen, Enno. Schwierig bei so einer angespannten Landung. Muss ich trainieren. „Und warum müssen wir uns immer in diesem beschissenen Schnellrestaurant treffen! Alles riecht nach Frikadellen und vollen Windeln! Man kriegt keine Luft hier! Warum immer hier?“

Ihre Stimme wackelt, gleich rollen die Tränen. „ Ich kann einfach nicht mehr!“

Landung. Willkommen in Depri-City. Das Baby klatscht in die Hände. Ich schiebe ihr meine Serviette rüber. Letzter Lotsendienst. Jetzt kann ich erst einmal nichts mehr für sie tun. Sie ignoriert die Geste, die Tränen laufen, die Nase verstopft. „Ich weiß, dass ich nervig sein kann. Ich arbeite dran. Aber… wir waren doch deshalb keine schlechte Familie, du und ich…“

Jetzt könnte ich Geigen drunterlegen. An die verklumpten Wimpern heranzoomen. Die rotgeweinten Augen verstärken. Es wäre ganz einfach, ich muss nichts mehr steuern. Aber ich habe keine Lust . Vielleicht tut sie mir auch leid. Keine Ahnung. Ich bin müde. Ich stehe auf, nehme den Teller mit Irmas Kuchen und fake einen Gang zur Geschirrrückgabe. Meine Mutter sitzt mit dem Rücken zu mir und dreht sich auch nicht um, als ich meine Serviette nehme und die Torte darin einwickele. Auch nicht, als ich an ihr vorbeigehe und irgendwas abschiedsmäßiges murmele.

Wenn man zu den Wohnlandschaften will, muss man an den Betten vorbei, auch an den Garderobenschränken. Die komplett eingerichteten Musterzimmer kann man auslassen, aber die
Wahrscheinlich ist höher Irma irgendwo in der düsteren Küchenzeile Oslo kauernd zu finden,  thronend auf einem Boxspringbett. Ich suche also alles ab, Küche Oslo, Schlafzimmer Ceylon, Wohnküche Manhattan – auch die untere Etage, wo es noch unwahrscheinlicher ist, sie zu finden zwischen Lampen, Spiegeln und Mülleimern. Ich dreh die komplette Runde heute zum fünften Mal und es ist gerade mal Mittag. Verschwunden. Es ist nicht das erste Mal, dass sie weg ist. Seit ihrem Einzug vor einem halben Jahr habe ich sie schon mindestens zehnmal gesucht. Aber das war mehr ein Spiel. Ich wusste, dass ich sie finde. Sie wusste nie, dass ich sie suche, hatte sich auch nicht absichtlich versteckt, damit es mir auffällt. Sie tut nie etwas, damit anderen es auffällt. Sie tut es einfach. Wahrscheinlich kann ich sie deshalb nicht runterdimmen oder ranzoomen. Ich kann sie nicht mal einem Genre zuordnen. Irma ist unfähig eine Rolle zu spielen, sie hat keinen Style oder wenigstens fertige Texte. Sie will überhaupt keine Wirkung erzielen, nicht mal gemocht werden. Tu ich auch nicht. Sie ist nicht sympathisch, nur hochgradig seltsam. Einen letzten Abstecher in das Kinderzimmer Malmö. Ich steig sogar auf das Hochbett und guck unter die Decke. Nur ein türkises Haargummi und ein halber Müsliriegel. Ich nehme beides mit, man weiß nie, wofür es nützlich sein könnte. Neulich habe ich einen Labello gefunden, jetzt glänzen meine Schuhe. Meine Mutter hat es heute sofort gesehen und ist davongeflogen in ihrer mutterhaften Begeisterung. Hätte ich eben bloß keinen Filmriss gehabt. Jetzt, mit fünf Räumen und einer Stunde Abstand, tut sie mir tatsächlich leid. Ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle täte. Wenn mein Sohn plötzlich abhauen würde und ein Jahr lang nicht zurückkäme. Ohne Erklärung. Ohne Angabe von Ort und Beschäftigung. Einmal im Monat Treffen mit Kaffee und Kindergeldübergabe. Mehr nicht. Doch, ich wüsste es. Einfach packen und mit nach Hause nehmen. Keine Diskussion, kein Verständnis zeigen. Schon gar nicht heulen (damit aber zum Arzt, Tabletten holen gegen zu viel emotionalen Flugverkehr, Kickboxen). Packen und ab nach Hause, am nächsten Morgen gleich zurück in die Schule. Stoff nachholen, Turbo-Abi, später bist du dankbar. Notfalls Gewalt anwenden, dafür und überhaupt einen richtigen Freund suchen. Kein Weichei, das sich mit erotischer Lyrik nicht mal über Wasser hält. Einen richtigen Mann. Das täte ich. Wenn ich Mutter wäre. Mutter von so einem genetischen Scheiterhaufen wie mir. Ein Jahr bin ich schon hier. Wahnsinn. Ursprünglich wollte ich nur eine Nacht bleiben. Eine Nacht heimlich im Möbelhaus. Und dann bin ich geblieben bis heute. Seit einem Jahr bin ich nicht mehr nach draußen gegangen. Nicht mal bis zum Parkplatz. Was soll ich auch auf dem Parkplatz. Am Anfang hatte ich Angst, dass sie mich nicht wieder reinlassen, wenn ich einmal vor die Tür gehe. Mich vielleicht sogar anzeigen. Möbelhausfriedensbruch. „Die sind doch froh, dass wir hier sind.“ Irma hatte nie Angst. Sie ist zwar auch nie rausgegangen, aber nicht aus Angst. “Wir sind das einzig Lebendige in dieser scheiß sterilen Atmosphäre. Da kommen diese Spießer vorbei und sagen sich: Mensch, Kartoffelmausi, so sieht das aus, wenn wir da sitzen, so jung und entspannt.’ Und sie so: ‘Ja, Hans-Peter- Jürgen-Ulf, so will ich dasitzen mit dir.’ Und zack Deal! Wieder ein Sofa verkauft. Oder Küche. Oder whatever.“

Das war vor ein paar Tagen. Irma kam jeden Tag einmal vorbei, egal wo ich war, immer nach der Durchsage mit dem Mittagsmenü des Tages. Dann stand sie plötzlich vor mir wie aus dem nichts, wie ein Anschlag. „Echt jetzt.“ Sie warf sich aufs Sofa. Lachs-in- Dill- solange-der Vorrat- reicht war gerade durch. „ Die sollten uns Freigetränke ausgeben, dafür, dass wir ihre Möbel featuren.“

„Ich feature nichts. Ich sitze hier nur.“

„Niemand sitzt nur, Ennoleinchen. Alles,was man macht, wird zum Statement. Kannst du machen was du willst. Ist so.”

Das war das letzte Mal, dass wir miteinander gesprochen haben. Danach habe ich sie noch einmal im Gang zu den Toiletten gesehen. Sie sah verheult aus, aber ich habe mir nichts dabei gedacht. Hormonparty halt. Vielleicht bin ich wirklich zynisch.
Die Serviette, in die ich Irmas Torte gewickelt habe, sieht aus wie blutdurchtränkt und klebt mir an den Fingern. Ich werfe den 3, 45 Euro-Kloß auf das Hochbett und geh zurück zu meiner Homebase. Malaga. Das Schlafsofa ist in meiner einstündigen Abwesenheit noch hässlicher geworden. Der grelle Bezug mit den Pelikanen schreit farblich nach Hilfe. Schon von Weitem tut mir der Hintern weh, Malaga ist einfach nicht zum Sitzen gemacht. Zum Schlafen auch nicht. Nur zum Kaufen. Ich muss wieder umziehen, aber wozu. Wozu bin überhaupt hier. Immer noch.

Jeder in der Schule kannte dieses Video: Ein Typ um die zwanzig geht abends ins Möbelhaus und versteckt sich im Schrank. Man sieht ihn mit Taschenlampe in diesem Kasten hocken, ab und zu macht er Zeitangaben. Mitternacht, zwei Uhr, vier Uhr – dann ist es acht Uhr morgens, er krabbelt aus der Kiste und rennt zum Ausgang, wo ihm die ersten Kunden entgegen kommen. Am Ende sieht man ihn hysterisch lachend über den Parkplatz rennen. Das ist alles. Der Typ ist ziemlich peinlich, er macht aus der Aktion ein Riesending, als hätte er gerade sein Leben aufs Spiel gesetzt. Trotzdem haben alle drüber gesprochen. Es lag in der Luft, dass früher oder später einer in unserer Schule es auch machen würde. Aber besser. Cooler. Länger. Mir war es nicht wichtig, dass ich es bin. Mir war es wichtig, dass ich es bin. Kann sich jeder aussuchen, welchen Satz er mir glaubt. Beide stimmen, deshalb stehen sie da. Ich schreibe nur auf, was stimmt. Logik hat darin keine Vorfahrt. Ich hatte nichts geplant. Ich bin einfach zur Filiale gefahren, die von zu Hause aus am nächsten liegt. Drei Stationen S-Bahn. Fünf mit dem Bus, dann steht man quasi schon vor dem Eingang. Als ich mittags hineinging, war viel los. Family Day. Das heißt ausgewählter Schrott für die Hälfte und Kaffee gratis. Die Leute schoben sich in Karawanen durch die Gänge, aus ihren Einkaufswagen ragten Teppichrollen, Kartons und Kinderköpfe. Man denkt sofort an Vertriebene, wenn man so bilderverseucht ist wie ich. Vertriebene der Neuzeit, von der Sinnlosigkeit ihres Daseins aus der Wohnung geprügelt. Erschöpft von den monotonen Beziehungen, hungrig auf irgendwas gehaltvolles, in mittlerer Panik vor der Zukunft. Und alle mit diesem Suchen im Blick, mit der Hoffnung auf ein kleines Wunder. Eine Sofalandschaft unter eintausend Euro vielleicht, ein King Size Bett, in dem die Post abgeht, also länger als die durchschnittlichen acht Minuten alle fünf Tage. Ein Kinderzimmer, in dem die Kleinen sich nicht umbringen wollen, sondern spielen. Das große Hoffen. Ich setzte mich in einen der Fernsehsessel und schaute mir das Treiben an wie eine Phönix-Doku, Soundtrack drunter. Fertig ist das Bildungs-Fernsehen.

Ich musste eingeschlafen sein, denn als die erste Rausschmiss-Ansage vom Band dudelte, war es bereits acht Uhr. Ladenschluss war in einer halben Stunde. Mein Puls ging hoch. Ich hatte keinen Plan, wo ich mich verstecken wollte. Ich ging wahllos in eine Richtung. Büromöbel. Küchenzeilen. Vitrinen. Die Zeit drängte. Ich entschied mich für eine volleingerichtete Küche mit einer Sitzecke, unter der ich nur zu erkennen war, wenn man sich bückte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das Personal nach Ladenschluss in Bückhaltung zehntausend Quadratmeter durchstreift, um Idioten wie mich zu finden. Es fühlte sich wirklich idiotisch an dort zu kauern, während zig Füße vorbeischlurften. Zweite Durchsage, die Schritte wurden zügiger, mein Puls schlug höher. Würde ich mich dabei filmen, sähe ich jetzt wahrscheinlich genauso hysterisch aus, wie das Teiggesicht im Video. Aber ich hatte mein Smartphone nicht dabei, ich war noch blöder als das Teiggesicht, ich hatte es auf dem TV-Sessel liegen gelassen. Scheiße. Wenn ich jetzt aufstünde, um es zu holen, würden sie mich rauswerfen. Entweder ausharren oder abhauen. Die Musik brach ab, das Licht ging runter, der Laden war zu. Das war der Anfang.

Katja Hensel_Fotocredit: Sofafotografie

Vita

1967 in Hamburg geboren, Ausbildung an der Schauspielschule Hamburg. Engagements u.a. am Schauspiel Essen, bremer shakespeare company. Theater Freiburg, Zürcher Schauspielhaus, Schauspielhaus Bochum.
Mitbegründerin des Ensembles „Laborlavache“, mit dem sie „sitzen in Hamburg“ (3Sat Fernsehpreis und internationale Gastspiele), Sommergäste (Kampnagel Hamburg) und „Clavigo“ (Schauspielhaus Zürich) produzierte. Zusammenarbeit mit Jaques Lessard und Lou Simard in Kanada. Studium „szenisches Schreiben“ an der UdK Berlin.
Eigenproduktion u.a. von „Wie Europa gelingt. Eine EU-Familienaufstellung“ (Gastspiele u.a am Schauspielhaus Hamburg im Rahmen des Festivals „Projektion Europa“, Volkstheater München, Schauspielhaus Stuttgart, im Mai am Schauspielhaus Wien, u.v.a.) , „Lotte und Luis“ (Koproduktion mit dem Jungen Schauspielhaus Düsseldorf), „EU only live twice“ (Schauspielhaus Wien, Schauspiel Bonn, Schauspielhaus Hannover u.v.a.) und „Utopia TV“ (Premiere 12.7. im Theaterdiscounter Berlin).
Arbeit als Autorin, Schauspielerin und Dozentin für Schauspiel und kreatives Schreiben (u.a. Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Hochschule der Künste in Zürich).
Zahlreiche Auszeichnungen und Preise u.a. der StellaAward für „A house full of music“ (Kategorie beste Idee / bestes Konzept), der 3Sat-Fernsehpreis beim Impulse Festival für „sitzen in Hamburg“, den Preis für beste schauspielerische Leistung beim NRW Theatertreffen für Kinder- und Jugendtheater, 2010 erhielt sie das Stipendium „NAH DRAN“ des Kinder- und Jugendtheaterzentrums Frankfurt für „Önf – Womit keine Zahl rechnet“ und 2012 für dasselbe Stück den Publikumspreis beim Heidelberger Stückemarkt. Für das Stück „Haydi“ Heimat!“ hat sie zum zweiten Male das Stipendium NAH DRAN erhalten, in Kooperation mit dem Landestheater Memmingen. Das Stück wurde für den Kindertheaterpreis der
Mülheimer Theatertage 2019 nominiert.
Ihre Stücke wurden bereits in sechs Sprachen übersetzt. Katja Hensel lebt in Berlin.
Weitere Infos unter: www.katjahensel.de
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