Im Rahmen der Online-Autorenmesse befragte mich Jurenka Jurk dazu, wie Autoren zu ihrem Thema finden. Schon lange treibt mich diese Frage um. Hier ein Einblick in meine Gedanken – in Vorbereitung auf das Interview.
Wovon sprechen wir, wenn wir vom Thema eines Romans sprechen?
Thema und Prämisse sind eng aneinander gebunden, wobei die Prämisse eine Annahme ist, die es in der Romanhandlung zu verifizieren gilt. Sie muss nicht moralisch sein, also keine Gültigkeit außerhalb des Romans behaupten. Das Thema ist umfassender. Es verleiht einem Roman Tiefenstruktur, weil Figuren, Setting und die Zeit, in der die Handlung sich vollzieht, im Zusammenspiel verschiedene Aspekte des Themas beleuchten. Dem Autor hilft das Thema seine Welt unter einem bestimmten Fokus zu beleuchten und beim Leser ein Gefühl von zusammenhängendem dreidimensionalen Universum zu erzeugen.
Nehmen wir als Beispiel folgenden Plot von Benedict Wells: „Vom Ende der Einsamkeit“: Jules Alltag und der seiner beiden Geschwister gerät aus den Fugen, als die Eltern sterben und sie im Internat leben müssen. Auch Alva, Jules Jugendliebe, wird mit dem Tod konfrontiert, als ihr Ehemann Romanow stirbt. Jules und Alva finden nach seinem Ableben als Liebespaar zusammen, werden Eltern zweier Kinder. Alles scheint gut, bis Alva an Krebs erkrankt und ihm erliegt. Ihr gemeinsamer Sohn Vincent ist jetzt in einem ähnlichen Alter wie Jules, als er seine Eltern verlor. Jules sieht sich mit seiner Vergangenheit konfrontiert, erkennt in Vincent immer wieder auch sich selbst. In Berdillac, seinem Kindheitsferienort, werden seine Erinnerungsbilder wieder lebendig. Jules findet sich erneut an jener Stelle im Wald wieder, an der er schon als Kind auf einem Baumstamm balancierte, der zwei Meter über den Fluss führt. Unter ihm spannt sich der Abgrund. Als Jules Vincents Angst gewahr wird, weiß er, was er tun will, Erinnerungen schaffen: Er balanciert über den Stamm und wieder zurück zu seinem Sohn. Angst soll nicht der Motor für das Leben seines Kindes sein.
Die Prämisse: Angst vor Tod und Verlust führen zu Einsamkeit. Erst wer den Schmerz über einen Verlust zulässt, kann wahrhaft leben.
„Vom Ende der Einsamkeit“ thematisiert den Umgang mit Tod und Verlust. Der Leser verfolgt Jules, der sich durch diese Erfahrung verändert, ängstlich und zurückhaltend wird. Er kann sich dem Tod aber gerade dadurch nicht entwinden und begegnet ihm immer wieder, bis er mit eben jener Bedingtheit leben lernt. Die Angst hat Jules bis zu diesem Zeitpunkt mehr genommen als der Tod selbst. Sie hat Erinnerungen abreißen lassen, ihn auf Umwege geführt und Hindernisse vor ihm aufgetürmt, die keine waren. Erst als er die Trauer zulässt und damit den Schmerz, kann er auch Glück fühlen. Der Leser sieht aber nicht nur Jules, der mit dem Verlust geliebter Menschen hadert, auch Alva, Jules zwei Geschwister, seine Tante und sein Sohn, ist mit der Thematik konfrontiert. Jede Figur begegnet dem Tod auf andere Weise.
Ein anderes Beispiel: Haruki Murakami, einer meiner Lieblingsautoren. Es gibt eine Unzahl von Motiven, die sich durch sein Werk ziehen, z.B. Brunnen, in denen der Protagonist sitzt und ausharrt, Katzen, die verloren gehen und mit ihnen die Überzeugungen und Sicherheiten der Hauptfigur, seltsam geformte Ohren, usw. usf. Auch wenn solcherlei Motive sich durchziehen und immer wieder auftauchen, so sind sie dennoch nicht zu verwechseln mit Murakamis Thema. In all seinen Werken geht es um traumatische Verlusterfahrungen und den Umgang damit. Motive dienen der Übersetzung des Themas in eine Bilderwelt, die in Murakamis Fall eine tragende Rolle erhält, weil er magisch realistisch, beinahe traumähnlich erzählt.
Weshalb hältst Du es für wichtig, Autoren bei der Suche nach ihrem originären Thema zu unterstützen?
Zum einen sehe ich im Schreibhain, jener Autorenschule, die ich 2013 gegründet habe und in deren berufsbegleitenden Autorenausbildung ich seitdem unterrichte, immer wieder ein Phänomen: Wer sein Thema kennt, kennt den Urgrund seines Schreibens. Daraus speist sich die Kraft dranzubleiben.
Der Prozess, einen Roman nicht nur schreiben zu wollen, sondern sich dieser Tätigkeit über eine sehr lange Strecke tatsächlich auch zu widmen, bedarf großen Durchhaltevermögens. Es reicht nicht aus, sich ein bisschen aus dem Fenster zu lehnen, um die frische Brise Meeresluft zu schnuppern. Viele Autoren, die ich kenne, treibt eine tiefe Sehnsucht an, die dazu führt, die Geborgenheit der eigenen Behausung zu verlassen, und hinauszutreten, in die vom Sturm aufgepeitschte Gischt. Einen Roman zu schreiben, heißt auch, eine Entscheidung zu fällen, Wind und Wetter zu trotzen, um auf der Grundlage dieser Erfahrungen, den Text immer wieder umzustellen, anzupassen, neu zu erfinden.
Für jeden Künstler, also auch einen Schriftsteller, heißt das außerdem, eigene Persönlichkeitsanteile, und seien sie noch so klein, zu erkennen, sie unters Mikroskop zu legen und groß zu machen. Die eigenen Grenzen und Möglichkeiten in seinen Figuren zu erweitern und – von innen wie von außen – zu betrachten, zu wenden, ins Gegenteil zu verkehren. Dazu braucht es Mut, und den haben Menschen nur dann, wenn ihr Ziel, stärker wiegt als die Angst, loszugehen. In diesem Fall: die Sehnsucht, den Text zum bestmöglichen Text zu machen muss größer sein als die Angst zu scheitern.
Wenn ich von Durchhaltevermögen spreche, meint das nicht in erster Linie Disziplin, auch wenn sie – ohne Frage – dazugehört. Vielmehr rede ich von dem Wunsch, unbedingt kreiieren zu wollen, von der inneren Notwendigkeit einer Geschichte zu helfen, sich aus dem unwägbaren Dunkel zu schälen, Gestalt und Form anzunehmen. Es ist also vielmehr eine Emotion aus der sich jenes Durchhaltevermögen speist, und diese Emotion dockt an eine literarische Haltung an, mit der ein Schriftsteller auf die Welt blickt. Wenn ein Autor weiß, welches Thema ihn berührt, weswegen er diese eine Geschichte erzählen will, dann ist es ihm um ein Vielfaches einfacher zu seiner Form zu finden, zu Figuren, seinen Milieus, seiner Zeit und Erzählstimme.
Es ist immer wieder ein magisches Moment, wenn ich beobachten darf, wie das eine, das andere beflügelt und all die Einzelheiten und Details einer Geschichte sich zueinander fügen, wie ein Puzzle, das endlich ein Bild ergibt. Die Wege unserer Autoren bis zu diesem Punkt, sind zwar unterschiedlich, aber immer wieder erkenne ich ein bestimmtes Muster: Ist der Autor auf die Quelle seines Erzählens gestoßen, auf den Kern seiner Sehnsucht, weshalb er diese eine Geschichte in die Welt tragen will, dann hat er Zugang zu einer ungeheuren Kraft und wird nicht aufgeben, bis ihm dieses Unterfangen gelingt.
Thema und Erzählstimme hängen zusammen.
Das Thema beeinflusst, wie Autoren erzählen, wie sich ihre Stimme formiert. Es hilft ihnen ihrer Geschichte und ihren Figuren zu vertrauen. Denn wenn sie wissen, was ausgerechnet sie dazu befähigt, zum Beispiel – wie in Wells Fall – von Tod und Verlust zu schreiben, gewinnen sie zugleich Nähe und Distanz zu ihrer Erzählung.
Jedem individuellen Erleben liegen menschliche Gefühle zugrunde. Umso besser es Autoren gelingt, diesen verschiedenen Emotionen in sich selbst nachzuspüren, umso besser können sie Figuren erschaffen und deren Ängste, Sehnsüchte und charakterlichen Eigenarten nachvollziehbar machen. Im Leseerlebnis werden aus solchen, sehr persönlichen Gefühlen, allgemeingültige menschliche Erfahrungswelten. Sie sind auf diese Weise überpersönlich und intim zugleich.
Das eigene Thema zu kennen, heißt den Urgrund des eigenen Schaffens zu betreten. An diesem Ort wohnt die Notwendigkeit zur Schrift und zur Sprache. Von hier aus spannt sich ein Draht zu Figuren, Plot und Ideen, der weiterführt zu Leserinnen und Lesern.
Ganz konkret – welche Ideen oder Schreibübungen können Autoren dabei helfen – ihr Thema zu finden?
Übung 1: Alan Watt
Vor einiger Zeit erzählte mir die Schriftstellerin Larissa Boehning von einer Entdeckung, die ihr Schreiben maßgeblich verändert habe. Die Rede war von Alan Watt und seinem Buch: „The 90 day novel“. Büchern, die ihren Lesern reißerisch versprechen, in 90 Tagen zu ihrem Roman zu finden, misstraue ich für gewöhnlich. Aber da es Larissa war, die mir Alan so sehr ans Herz legte, las ich ihn und begann mit seinen Anregungen zu arbeiten. Ich gestehe: „The 90 day novel“ hat auch mein Schreiben maßgeblich verändert.
Alan Watt rät zu folgender Übung, wenn es darum geht, dem eigenen Thema auf die Spur zu kommen: Nehmt Euch einen beliebigen Gegenstand im Raum und erzählt in automatischer Manier, also ohne den Stift abzusetzen und ohne nachzugrübeln, aus der Ich-Perspektive seine Geschichte. Schreibt 5 Minuten ohne Unterbrechung. Ihr werdet erstaunt sein, welche Themen in diesem kurzen Text aufleuchten. Diese Übung zeigt, was Euch aktuell beschäftigt. Denn die Aufgabe hat einen Umweg genommen: Ihr habt scheinbar eine fremde Geschichte irgendeines Gegenstands erzählt. Tatsächlich aber habt ihr euch euren ureigenen Themen genähert.
Übung II: Biografische Bezüge.
Johann Wolfgang von Goethe schrieb: „Ich glaube, dass wir einen Funken jenes ewigen Lichts in uns tragen, das im Grunde des Seins leuchten muss, und welches unsere schwachen Sinne nur von Ferne ahnen können. Diesen Funken in uns, zur Flamme werden zu lassen und das Göttliche in uns zu verwirklichen, ist unsere höchste Pflicht.“
Fragt Euch, wann habt Ihr zuletzt diese Flamme gespürt? Was genau hat dieses Leuchten entfacht? Beschreibt diese Situation möglichst konkret.
Übung III: Andere Autoren und ich
Schreibt eine Liste mit fünf bis zehn Eurer Lieblingsautoren und dahinter notiert ihr, welche Themen ihren Romanen zugrunde liegen. In einem weiteren Schritt überlegt Euch, ob es eine Überschneidung gibt mit Themen, die auch Euch bewegen und weshalb ihr diesen Autor so gerne lest. Findet Ihr Anknüpfungspunkte zu seinen Themen in eurer eigenen Biografie oder in der eurer Verwandten oder Freunde?
Wenn euch ein Thema packt, lade ich euch ein, dazu zu recherchieren: Welche anderen Romane oder Sachbücher bearbeiten diese Themen? Findet Experten, interviewt sie. Legt Euch ein Archiv mit Zeitungsartikeln oder Links an. Sammelt Ideen, Figuren, die euch dazu einfallen. Schreibt kleine Texte dazu. Kreist das Thema ein, oder erweitert es.
Du bist – neben Deiner Tätigkeit als Schreibschulenleiterin – auch Autorin. Wie war das bei Dir? Hast Du Dein Thema schon gefunden und verändert es sich mit Dir?
Meinem Thema kam ich das erste Mal im Lesen nah. Ich las, was mich zu sich zwang. Sprache und Thema gingen oft miteinander einher. Das waren als Jugendliche Hermann Hesse, Max Frisch, Milan Kundera und Robert M. Pirsig. So unterschiedlich die Autoren sind, ihnen gemein, war der Aufbruch ins Unbekannte, durch verschiedene Facetten beleuchtet und immer auch die Kombination aus Verlust und dem Ringen der Protagonisten mit einer ungewissen Sehnsucht. Das war noch lange nicht mein Thema, aber mein literarischer Ausgangspunkt fürs Schreiben. Erst in Hildesheim, als ich bei Hanns-Josef Ortheil studierte, entdeckte ich mein magisches Trio: Haruki Murakami, Irvin D. Yalom und David Lynch. Was die Drei verbindet: Meist Außenseiterfiguren, die Traumatisches erfahren haben. Ihr Erleben- zumindest bei Lynch und Murakami – lässt die Grenzen zwischen Innen und Außen, Wahrheit und Erfindung – schwinden. Es geht also immer auch um Entgrenzung, neben Verlust und Tod, dem gegenüber sich das Leben abhebt. Hanns Josef Ortheil schrieb in seinem Gutachten zu meiner Abschlussarbeit, die Autorin habe ihr Thema bereits gefunden. Vielleicht schien das zum damaligen Zeitpunkt so. Im Rückblick bin ich mir da nicht so sicher. Vielmehr glaube ich, habe ich mich – auch durch Auftragsarbeiten – von meinen ursprünglichen Stoffen entfernt. Erst jetzt nähere ich mich- in meinem jüngsten Romanprojekt – wieder dem Ursprung. Es geht um Wahrheit und Erfindung und Verlustgeschichten ziehen sich durch das Figurenensemble, das sich übrigens, nicht immer auf realem Grund bewegt. Entgrenzung also. Was ich sagen kann, es fühlt sich großartig an, nach den Ab- und Umwegen wieder anzukommen beim eigenen, originären Thema. Auch wenn es sich, im Laufe der Zeit, sicher anders darstellen mag. Wie sich Autoren entwickeln, entwickelt sich auch ihr Werk.
Trägt das ureigene literarische Thema – quasi per definitonem – autobiografische Züge des Autors
Darauf gibt es eine ganz klare Antwort: Jein. Jede Geschichte, die ein Autor sich erschreibt – oder die sich durch ihn hindurch schreibt – muss zwangsläufig durch das Nadelöhr seines Blickes auf die Welt gehen. Der Autor lässt sich nicht wegdenken, er erfasst sein Universum und mitunter erfasst es ihn.
Das ist wie bei einem Schauspieler. Ein Teil seines Selbst kennt das Gefühl der Figur, kann andocken. Er macht diesen Anteil lediglich größer. Was er nicht kennen muss, ist die Erfahrung der Geschichte. Er muss sie sich vorstellen können, dieses was wäre wenn, wenn ich nicht ich wäre, sondern eine Möglichkeit, die in mir wohnt. Es ist ein herrliches Spiel. Wie Stanislawski einmal schrieb: Der Schauspieler ist einer, der nie aufgehört hat zu spielen. Der an die Imagination glaubt, an deren Wirklichkeit und Implikation. Das ist auch die Aufgabe eines Schriftstellers. Er selbst muss seine eigenen Welten so nicht erlebt haben, all die Bezüge und Verwicklungen, mögen erfunden sein, aber sie alle sind wahr. Sie alle gehören zu ihm und seiner Welt.
„Die Grenzen meiner Vorstellung sind die Grenzen meiner Welt.“ Schriftsteller sind gute Zuhörer und Beobachter. Sie lauschen fremden Erzählungen, sie hören genau zu, sie nehmen auf und vermengen und setzen in Bezug. Und all dem liegt eine Wahrheit, ein Thema zugrunde, das sie umtreibt. In meinem Fall: Meine Familie mütterlicherseits hat jüdische Wurzeln. Wie die Familie meiner Großmutter in der NS-Zeit überleben konnte, war mir immer ein Rätsel. Aus Angst, uns in Gefahr zu bringen, schwieg meine Großmutter über dieses Thema. Aber es gärte in mir. Wie hatten sie überleben können? War es Glück oder Verstand? Als ich auf eine historische Figur, Stella Goldschlag stieß, eine sogenannte Greiferin im NS-Deutschland, also eine Jüdin, die andere Juden in Scharen an die Gestapo verriet, um sich selbst zu schützen und sich selbst Vorteile zu verschaffen, dockte ich an. Zwar wusste ich mit 99-prozentiger Sicherheit, dass in meiner Familie keine Greiferinnen gewütet hatten, aber dieses eine Prozent, setzte meine Imagination frei: Was wäre gewesen, wenn? Auch eine Kinderfrage, eine die Autoren wie Schauspieler, mit herrlichem Ernst, wie Stanislawski sagt, betreiben können.
Verena Rabe erzählte jüngst in der Autorenausbildung im Schreibhain, sie könne über ein Thema nur schreiben, wenn es zum einen an Biografisches andockt, sie müsse zum anderen aber auch sichergehen, dass Erlebnisse, die einem Stoff zugrunde liegen, also die Keimzelle, bereits lange genug zurückliegt, um eine gewisse Distanz zu schaffen zwischen ihr und der Geschichte. Diese Distanz erlebe ich als genauso notwendig wie die Nähe zu einem Thema.
Nur in einer möglichen Distanz kann ich Figuren von mir entkoppeln und sie laufen lassen, um ihren eigenen Weg zu finden. Nur mit Distanz wird es mir gelingen, meine zukünftige Leserschaft nicht unangenehm zu berühren, mich als Autor in den Dienst der Geschichte zu stellen und nicht mich über sie zu stülpen. Die Nähe und das Feuer zur eigenen Geschichte liegt aber im Thema und eurem Bezug dazu.