Berlin, 22. März 2020
Autorin: Cornelia Jönsson
Roulette
Der Frühling kommt sonnenhell und knospend
Glasklares Wasser, Delphine in den Häfen und Kinderlachen
Hinter Fensterscheiben
Wir sagen: die Kurve verflachen
Und meinen: schleichende Angst
Ich sage: weißer Tod
Und denke an Seife, Schutzanzüge und Bettwäsche.
Wir sagen: Bleib gesund. Und lächeln. Und sind dabei
Depressiv, diabetisch, phobisch, allergisch, impulsbrüchig, immunschwach, schlaflos, schmerzvoll.
Alle Wunden werden Geheimnis
Hinter Seife und Lächeln.
bemühte Apathie: die Fotoalben – versunkene Welt –
Staub und Schlaf,
Streiten und Spielen und
die immer gleichen Wände anstarren.
Hektischer Exzess: Die Schicht heißt:
Bis auf weiteres,
der Kopf sinkt
Auf Schreibtisch, Lieferband, OP-Besteck.
Privatleben ist ein Wort von Vorgestern.
In der Hektik wird alles vergessen, um das Morgen zu retten.
In der Apathie hegen wir die Kostbarkeiten von früher, bevor sie ihre Konturen verlieren:
Freund, Tanz, Bar, Theater.
Ein Wort mit A, Du bist dran.
Wir sind sauber und rein.
Hände, Mund, Gewissen.
Ich greife nach Dir, aber etwas hält mich.
Zwischen uns steht das neue und einzige Wort:
Du, ich, Virus.
Wir meiden uns.
Wir sagen: Wir schaffen das und rüsten auf und haben doch längst verloren.
Wir setzen auf rot, auf schwarz, auf Isolation, auf Militär.
Wir setzen auf Zahl, auf Ausgangssperre.
Der Virus ist die Bank und die Bank gewinnt immer.