Magdeburg, 01. April 2020
Autorin: Cora Albrecht
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Kobolde kriegen kein Corona
Das Gesicht, das mich aus dem Spiegel ansieht, ist mir fremd. Dass man sich in so kurzer Zeit so sehr verändern kann … Oder habe ich einfach nur durch diese Krise gelernt, wer ich schon immer in Wirklichkeit war?
Mit zittrigen Fingern ziehe ich meinen Lidstrich nach. Ganz dunkel heute.
Als die Coronapanik im Westen losging, die ersten Läden kein Klopapier mehr hatten und die ersten Idioten nur noch mit Mundschutz rumliefen, haben meine Kollegen und ich noch gespaßt. Schulschließungen, das wäre doch was. Aber bitte erst in zwei drei Wochen, wenn das Wetter schöner ist. Damit man was im Garten machen kann.
Wer hatte auch ahnen können, dass dieser Virus wirklich so gefährlich ist? Schließlich ist es nicht die erste Pandemiepanik, die wir in den letzten Jahren erlebt haben.
Doch zwei Wochen später wurde auch unsere Schule geschlossen.
Ich bin noch nicht lange Lehrerin. Ich bin es gerne, aber ich habe auch so meine Probleme damit. Der viele Kontakt zu Menschen strengt mich an. Mein Leben lang habe ich mich dagegen gewehrt, habe nach Tätigkeiten gesucht, die ich von zu Hause aus machen kann, bin gescheitert. Und nun dieses Projekt Schule, auf Zeit, wie ich mir immer gesagt habe. Nur, bis ich irgendwie vom Schreiben leben kann. Ich mag schließlich keine Menschen.
Dann kam Corona. Schulschließung, Home-Office. Ferien! Beziehungsweise endlich einmal Zeit für überfällige Unterrichtsvorbereitungen und Recherchen. Kommt man ja sonst nicht zu. Einfach mal Schule ohne Schüler. Das ist doch was.
Auf die erste Euphorie folgte gleich Ernüchterung. Wir müssen Notbetreuung machen für die Kinder, deren Eltern unbedingt arbeiten müssen, weil sie Ärzte sind, Polizisten, Pfleger, Feuerwehrleute. Oder im Supermarkt an der Kasse sitzen und Regale auffüllen, ja, auch dieser Beruf ist dringend notwendig in einer Zeit wie dieser. Notbetreuung. Und da ich als Festangestellte, nicht mehr nur auf Honorarbasis beschäftigte Lehrerin mein Gehalt weiter bekomme, muss ich natürlich auch daran teilhaben. Einen Nachmittag in der Woche. Geht ja noch.
Aber erstmal war Wochenende. Wenn ich Montag nicht in die Schule musste, für Dienstag auch keinen Unterricht vorbereiten, konnte ich mein Wochenende doch mal richtig genießen. Netflix wurde für eine Zeit wie diese erfunden, ich verstehe gar nicht, warum Menschen Probleme damit haben, sich an die Ausgehbeschränkungen zu halten. Coronapartys? Wir müssen noch ein paar Serien bingewatchen. Tolles neues deutsches Wort.
Mist, das Makeup ist mir ins Waschbecken gefallen. Auch das würde mir niemals fehlen, das Schminken für die Leute da draußen. Um so auszusehen wie die, die von mir verlangen, meine sichere Wohnung zu verlassen. Schon vor Corona war jede Begegnung mit Menschen gefährlich für mich, ich habe schon immer jede Grippewelle mitgenommen. Außerdem sind Menschen gefährlich. Es gibt Raser, Mörder und Teenager. Also lieber zu Hause im Bett bleiben.
Montag früh war ich – nicht wach. Natürlich nicht, warum auch? Ich musste ja nirgendwo hin. Und als ich um neun endlich aus den Federn gekrochen kam, war ich frustriert. Ich hatte das ganze Wochenende Arrow geguckt und außer, dass ich jetzt große Lust hatte, Bogenschießen zu lernen, aber alle Sportvereine auf unbestimmte Zeit geschlossen blieben, war nichts dabei rausgekommen. Und die nächsten Tage würden weiterhin Wochenende sein. Die Aufgaben, die mein Schulleiter uns für den Tag im Home-Office gestellt hatte, hatte ich in fünf Minuten erledigt, noch vor dem Frühstück. Alles weitere würde heute niemand abfragen und auch morgen nicht.
Also weiter Netflix.
Nein! Ich wollte doch immer ohne soziale Ablenkungen arbeiten, jetzt konnte ich es. Und dann lenkte ich mich selbst ab? Irgendwann würde die Schule wieder öffnen, ich würde wieder Unterrichtsvorbereitungen brauchen, die ich nach der Schule nicht schaffte, weil ich vom Unterrichten, vom Reden, vom mit Menschen zusammen sein so müde war, dass ich nur noch fernsehen konnte. Ich würde mich ärgern, wenn ich diese Home-Office-Zeit nicht genutzt hätte.
Ich schrieb eine To-do-Liste und arbeitete stringent Punkt für Punkt ab. Bis zum Mittag hatte ich fast die Hälfte geschafft. Das wäre doch gelacht, wenn ich das nicht schaffe! Zu Hause Büro spielen, das hatte ich doch als Kind schon gerne gemacht. Erst recht, wenn ich allein spielen konnte.
Also gönnte ich mir zum Essen eine weitere Folge Arrow. Und noch eine, ich musste noch verdauen. Außerdem hatte ich ein Häkelprojekt begonnen, einen Korb, um meine Yogautensilien im Wohnzimmer zu ordnen, das war wichtig! Als ich mich nach der dritten Folge wieder an den Schreibtisch setzte, war mein Kopf leer. Es war so still in der Wohnung.
Über das Internet trudelten ein paar Nachfragen von SchülerInnen ein zu den Aufgaben, die ich ihnen geschickt hatte. Sie zu beantworten fühlte sich gut an, ich fühlte mich wieder als Lehrerin. Aber es dauerte keine dreißig Minuten. Sollte ich jemanden anrufen? Nein. Ich wollte doch arbeiten! Wann kam bloß meine Frau nach Hause?
Ich machte erstmal den Abwasch, auch das war schließlich wichtig, dann die Wäsche. Und schon war meine Liebste da und wir verbrachten den restlichen Abend – na klar, mit Neflix.
Am nächsten Morgen, heute Morgen, habe ich noch geschimpft. Ich muss in die Schule, ich wollte doch so viel zu Hause erledigen. Auch im Haushalt gibt es ein paar Baustellen, die dringend meine Aufmerksamkeit erfordern, so viele Bücher haben sich ungelesen gestapelt, und dann natürlich die Unterrichtsvorbereitung. Meine Frau hat nur gelacht. Sie musste ins Büro fahren. Sie wäre auch gern zu Hause geblieben.
Als sie weg war, habe ich erst gemerkt, wie gut sie es hat.
Es war so still in der Wohnung. Die Häkelsachen, die Bücher, die Unterrichtsmaterialien – alles schrie mich an und wollte bearbeitet werden.
Ich schlief erstmal noch ein Stündchen.
Aber natürlich war danach immer noch nichts bearbeitet. Vor der Schule würde ich allerdings nichts mehr schaffen. Nur noch ein Frühstück und ins Bad, dann los. Und wenn ich wieder komme, muss ich erst einmal das Waschbecken putzen, das Make-up hat deutliche, grüne Spuren hinterlassen.
Ich ziehe mir meine Schuhe an – die Schnürsenkel sind schon lange gerissen, aber neue kriege ich jetzt auch nicht, oder? – packe meine Schlüssel und los. Die Sonne lacht mir ins Gesicht, ein altes Ehepaar, dem ich vor der Tür begegne, guckt nicht ganz so freundlich. Ich ziehe mich unter meine riesige, grüne Kapuze zurück und gucke sie finster an. Ich würde ja gerne zu Hause bleiben, aber ich darf nicht!
Schon von weitem sehe ich meine Kollegin, die einige Meter vor mir die Straße hinunter geht. Ich fange ganz von allein an zu laufen, um sie einzuholen. Das habe ich noch nie gemacht. Also verlangsame ich meine Schritte wieder und horche in mich hinein. Freue ich mich etwas, sie zu sehen? Ich werde noch den ganzen Nachmittag mit ihr verbringen, mit nichts zu tun, außer dem Bewachen weniger Kinder und Smalltalk. Gott, wie ich Smalltalk hasse.
Als meine Kollegen mich im Schulgebäude sehen, schlagen sie sich vor die Stirn. „Das habe ich ja total vergessen, cool siehst du aus.“
Ich freue mich tatsächlich sie zu sehen. Sehr sogar.
Wir gehen zu den Kindern, die auf dem Schulhof Fußball spielen. Auch sechs Grundschulkinder können ganz schön viel Krach machen. Wie still es doch zu Hause gewesen war. Viel zu still. Verratet bloß niemandem, dass ich das gedacht habe.
Die Kinder kommen auf mich zu gerannt, bleiben aber dann in sicherem Abstand stehen. In so wenigen Tagen hat sich unsere so herzliche, berührungsintensive Schulatmosphäre komplett gewandelt.
Ich lache nur und kneife die Kinder sanft in die Arme. „Ich kann euch sehen, ihr tragt kein Grün.“
„Wir dürfen nicht anfassen“, ermahnen mich die Kinder. „Corona! Corona!“ Das ist das neue Wer-hat-Angst-vorm-schwarzen-Mann.
„Ich bin ein Kobold. Kobolde kriegen kein Corona!“
Die Kinder kreischen und rennen lachend weg, glücklicherweise glauben sie in dem Alter ja alles, um ein Spiel daraus zu machen, ich hinterher. Wie gut, dass ich gerade am Sankt Patricks Day zur Notbetreuung eingeteilt bin. Ich habe akuten Kinderentzug.