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#weiterschreiben100 – Dokumentarisches

Halle, 28. März 2020

Autorin: Katharina Kayser

Das C-Wort

6.30 Uhr. Ich stelle den Wecker aus. Er hat nicht geklingelt. Ich bin vorher wach geworden. Wie so oft in diesen Tagen. Die Katze lugt schon um die Zimmerecke und reibt den Plüschkopf am Türrahmen, die grünen Augen blinzeln mir zu. Ich stehe auf und zwinge mich, noch keine Whatsapps zu lesen oder online zu schauen, was passiert ist, seit ich eingeschlafen bin. Nach einem doppelten Whisky, drei Rippen Schokolade und einer Folge Mila Superstar auf Prime. Herrlich, diese High School-Volleyball-Probleme in bunter Manga-Nostalgie. Vor über 20 Jahren habe ich sie nach der Schule angesehen und mir noch keine Gedanken über das C-Wort gemacht.

6.45 Uhr. Ölziehen mit Minzgeschmack, dabei die Katze füttern und die Spülmaschine ausräumen. Öl ausspucken. Ingwershot mit heißem Wasser trinken. Kaffee aufgießen. Echten, koffeinhaltigen, reinknallenden Kaffee. Der Versuch, auf Lupinenkaffee umzusteigen und früher ins Bett zu gehen, war vor C-Zeiten. Fühlt sich an wie drei Monate statt knapp zwei Wochen.

7.00 Uhr. Mit Kaffee zurück im Bett die erste Nachrichtenschau des Tages. Was meldet „mein“ Nachrichtenmedium, für das ich arbeite, was melden die anderen? Habe ich dringende Nachrichten, Mails, Merkknoten fürs Gehirn, gelbe Postits für den Haufen Spaghetti, den das C-Virus aus meinem Hirn mitunter macht?

7.30 Uhr. Eine Runde Sport. Durch das längere Sitzen und Arbeiten verspannt sich mein Nacken, verkrampfen meine Muskeln an Rücken, Becken, Hüfte. C-Folgen, ohne dass ein Test nötig ist. Eine Runde Power-Yoga, danach Extra-Dehnen und der Faszienball, der mich vollends wach macht – au! Die Katze pfotet nach dem Korkball und drückt mir ihr Fell ans Gesicht, als ich mich im herabschauenden Hund final strecke. Ich niese. Sie saust davon. Husten, denke ich, wäre vermutlich besorgniserregender in C-Zeiten.

8.00 Uhr. Frühstück. Hunger verspüre ich kaum, aber der Kopf meldet an, dass der Körper Energie braucht. Rein mit dem Ghee in die Pfanne, Apfel- und Pflaumenstücke hinterher, gemischt wird mit Sojajoghurt und Haferflocken und Zimt, dabei höre ich Radio. Ohne Musik und Werbung. Sonst bräuchte ich um diese Uhrzeit schon einen Boxsack. Oder einen aufblasbaren Schwimmreifen, um in der Infoflut den Kopf oben zu behalten. Diese Fluten werde ich gleich stundenlang abscannen, aufnehmen, überprüfen, verarbeiten, ergänzen und wieder herausjagen an eine Öffentlichkeit, die immer mehr will. Oft nicht so, wie ich sie zu geben habe. Noch größer, noch detaillierter, was halte ich zurück, als Lügenpresse-Vertreter, als Systemclown, als mieser Service, als trauriger Geldmacher, dessen Beiträge, die, die jetzt nicht überlebenswichtig sind, größtenteils doch für Geld zu haben sind? Tja. Auch ein Bäcker verschenkt keine Brötchen, nur weil jemand Hunger hat. Eine Boutique gibt keine Kleider her, weil jemand friert. Der Häuslebauer baut kein Haus, nur weil jemand keins hat.

8.20 Uhr. Badezimmer. Duschen, föhnen, schminken, Zähneputzen, die Extradosis Deo für alle Fälle. Die Katze kommt mit und aalt sich auf dem Duschvorleger. Sie will, dass ich bleibe. Ich will auch bleiben. Aber irgendwer muss unser Futter verdienen, nicht wahr, Frollein? Und irgendwie fühle ich mich jetzt auch gebraucht, am richtigen Platz, die jahrelange Ackerei hat sich wohl doch gelohnt, ich hadere weniger mit meinem Journalistenjob als sonst. Anziehen: bequeme Sachen, in denen ich es lange aushalte. Kein Tanga. Flache Schuhe. Ein Extra-Halstuch, falls es kühler wird.

8.45 Uhr. Los geht’s, mit Thermobecher voller Ayurvedatee in der Hand und einem Aufschub aus Musik im Ohr. Heute Die Ärzte. Draußen sind wenige Menschen unterwegs, wenige Autos, wenige Hunde. Insgeheim gefällt mir das ganz gut. Können wir die 2-Meter-Abstand-Regel bitte beibehalten, in der Zeit nach C? Offenbar kriegen viele Menschen Budenkoller. Ich freue mich über jeden Tag, jeden Abend, jede Stunde in meiner Wohnung und auf dem Balkon, in der ich nicht kommunizieren muss, nichts aufnehmen, nicht reagieren, nicht machen. Nur Miau sagen. Oder Gurr. Oder mit den Augen reden. Das war schon vor C so. Jetzt hat sich das Bedürfnis verdoppelt.

9.15 Uhr. Hallo, hallo, PC hochfahren, zweiten Kaffee holen, Programme öffnen. Nachrichtencheck, Mailcheck, Brändecheck. Muss ich irgendwo was löschen, mich kümmern, geraderücken, herausfinden, telefonieren, besprechen? Die ersten Stunden sind am stressigsten, weil am vollsten.

9.45 Uhr. Meldungen schreiben, Infos überprüfen, Neues ranrecherchieren, Bilder aussuchen, Videos sichten. Zwischendrin mailen, telefonieren, abstimmen, helfen oder mir Hilfe holen. In einem Moment verspüre ich tiefste Dankbarkeit für einige Kollegen und möchte sie am liebsten virtuell drücken. Meine Emotionen kennen zurzeit offenbar nur Extreme oder erholsame Abstumpfung. Andere Kollegen möchte ich dagegen auf den Mond schießen, zur Gesellschaft des Automaten aus dem Wallace-und-GromitFilm, als sie zum Mond fliegen und Käse essen. Käse! Ich sollte wohl auch etwas essen. Und die Mond-Kandidaten ausblenden, die sich gefühlt jedes Corona-Spaß-Video vorspielen, das die Runde macht.

14.30 Uhr. Der Tag ist gefühlt vorbei – gemessen an der Menge, die ich erledigt habe und die sonst für einen ganzen Tag oder sogar anderthalb reicht. So, wie sie vor dem C-Mistviech waren. Kurze Atempause. Ich drehe eine Runde auf der stillen Straße und erhole meine Sinne. Eine Frau geht mit gebeugtem Kopf vorbei, geblümter Mundschutz Marke Selbstgenäht, eine Packung Klopapier unterm Arm. Weißes Gold. Sie sieht mich und wechselt auf die andere Straßenseite. Sechs statt zwei Meter Abstand. Als ob ich sie anspringe und es ihr wegreiße.

15.00 Uhr. Kaffee, wo bist Du? Es geht weiter wie am Vormittag. Manchmal vergesse ich, dass ich zur Toilette muss, um den Kaffee wieder wegzubringen. Freunde whatsappen mir, schicken C-Scherz-Bilder und Videos und Links, aber ich drücke sie alle weg, weg, weg. Zu viel Input, zu viel Anstrengung, solange mein Hirn noch Kapazität hat. Die Arbeit hat bezahltes Vorrecht auf meine Energie. Ich bin froh, dass ich den Fahrtenschwimmer habe für die Infoflute auf gut 15 Kanälen parallel, die ich bei der Arbeit im Blick habe. Bearbeite ich eine Aufgabe länger als sonst, kann es Stau geben. Alles, was mit C zu tun hat, scheint gleich wichtig zu sein. Ich hoffe, C wird zum Unwort des Jahres gekürt.

17.00 Uhr. Akutes Energieloch. Das Gehirn flimmert schon Richtung Spaghettiklumpen. Vor C habe ich in solchen Fällen Nüsse oder Joghurt gegessen. Jetzt esse ich Schokoriegel. Mir doch egal, dass ich gerade systemrelevant wie selten bin (jaaaa, AfD, da guckt ihr!) und mich deshalb vermutlich gesund ernähren sollte. Ohne Extrazucker und Koffeinschübe. Haha. Ja. Soll hier vielleicht ein Zombie sitzen? Ein Mann ruft an und schimpft auf Ausländer. Fast lache ich. Fast ist das herrlich normal. Dann gucke ich mich um, ob jemand zuhört, und empfehle ihm, sich mehr mit der auf der Welt angerichteten Zerstörung durch die petrophaga lorioti zu befassen: die Steinlaus. Was, davon haben Sie noch nichts gehört? Eine Riesenverschwörung, genaue Zahlen offiziell unbekannt, von denen da oben totgeschwiegen. Ich lege auf und seufze. Loriot, komm zurück und sag etwas C-Aufspießendes, mit Humor wie ein Kunstschütze und erhobener Augenbraue!!!

19 Uhr 30. Ich wanke nach Hause. Ich fühle mich wie ein Boxer, der gerade aus dem Ring gekrabbelt ist. Äußerliche Blessuren habe ich nicht, nur blaue Flecken im Kopf, ein Ziehen in der Schulter (vom Bedienen der Maus), Stressluft im Bauch und Watte unter den Füßen. Ich rufe meine Mutter an. Sie langweilt sich seit Tagen. Ich wünschte, sie könnte mir auch nur ein kleines bisschen davon abgeben. Während wir reden, gehe ich noch mal durch, ob ich alles vorbereitet habe für morgen. In meiner Tasche piepst das Arbeitshandy. Es wird den ganzen Abend weiterpiepsen, wenn ich es nicht leise stelle. Meistens betreffen mich die Piepser nicht direkt, aber welcher Journalist schafft es jetzt, auch nur einen Abend wegzuhören oder wegzulesen? Wenn sich die Welt innerhalb weniger Stunden vielleicht auf den Kopf stellt?

20.00 Uhr. Selige Sekunden des Vergessens, als die Katze vor meinen Füßen kullert und ihren Kopf schnurrend in meine Hand drückt. Was zählt mehr in diesem Moment, als diese kleine Charme-Domina zu beglücken und zu fühlen, was allein für sie zählt, völlig fern aller C-Sorgen und allen C-Stresses: ich, die Streicheleinheiten, das Futter, der Balkon mit einem Frühlingshauch in der Abendluft und die Bänder an meinem Pulli, in die sie begeistert hineinbeißt (und dabei ausfranst.)

20.30 Uhr Heute werde ich gesund und leicht essen, nehme ich mir vor und türme Käse auf meine Gemüsepfanne, getoppt mit Toast und gefolgt von Erdnüssen und der anderen Hälfte der Schokoladentafel vom Vorabend. Hey, die ist Fairtrade und vegan. Ich spiele mit der Katze und halte mein müdes Gesicht in ein Dampfbad.

22.00 Uhr. Als ich zu meditieren versuche, schlafe ich ein. Ich schrecke wieder hoch, weil die Katze mir die Nase ins Ohr steckt. Eine letzte Nachrichtenrunde, sage ich mir und zeige dem Whisky den Mittelfinger.

23.00 Uhr. Als Kind habe ich zum Einschlafen Hörspiele gehört. Heute höre ich Wortfetzen des Tages in meinem Kopf, sie springen hin und her wie altmodische Bildschirmschoner. Ich müsste sie mit einer Wortklatsche erschlagen wie Fliegen, aber ich bin zu müde. Heute auch keine Mila Superstar mehr, Mila Superschlaf wäre mir lieber. Ich lege mich ins Bett (wo die Katze schon wartet) und schließe die Augen für autogenes Training. Ich bin weg, noch bevor ich die zweite Übung durch habe. Gute Nacht, C. Bis morgen.

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