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Von den Verheißungen der Literatur

Die Frankfurter Buchmesse ist ein Ort versammelter Geschichten, die Identität und Kultur gleichermaßen seismographisch erfassen wie neu denken. Geschichten, die von geheimen Sehnsüchten erzählen, die uns dem nahe bringen, der wir sein wollen. In diesem Sinne sind Erzählungen utopische Orte, die so unerreichbar gar nicht sind – was erdacht, geträumt, erfühlt werden kann, ist auch möglich.

Literatur, so sagt Nino Haratischwili in ihrer Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse, sei nicht in Grenzen gefangen, vielmehr entdeckten wir uns in der Relativierung unserer Selbst neu, könnten durch scheinbar fremde Geschichten Zugehörigkeit erfahren.

Mehr als 7100 Aussteller aus ca. 100 Ländern präsentierten sich im Oktober 2018 auf der größten Buchmesse der Welt in Frankfurt einem internationalen Publikum. I´m on the same page, so das diesjährige Motto. Siebzig Jahre Menschenrechte und siebzig Jahre Frankfurter Buchmesse – dieses alljährliche Zusammentreffen, Kollaborieren und Netzwerken in einer Branche, die sich stark macht für Meinungsfreiheit und Demokratie.

Heinrich Riethmüller, Börsenvereinsvorsteher, fordert bei der diesjährigen Eröffnung den türkischen Staatsminister, aber auch alle anderen Despoten explizit dazu auf, inhaftierte Autoren, Journalisten, Verleger, Kulturschaffende und andere politisch Gefangenen frei zu lassen. Überall dort, wo Menschenrechte angegriffen oder zum eigenen Vorteil ausgelegt würden, solle dieser Appell gehört werden.

Ehrengast ist dieses Jahr Georgien und was Aka Morchiladse auf dem Podium ausspricht, berührt mich sehr: „Ein georgischer Schriftsteller ist immer dort wo niemand ist und sich alle versammeln.“ So verhält es sich vielleicht mit allen wahren Schriftstellern, sie erspüren gerade in der Einsamkeit ihrer Arbeit, wie sie mit allem zutiefst menschlichen verbunden sind. Ängste und Wünsche veräußern sich durch ihr Denken und Fühlen in einem geschärften Blick auf die Welt, in dem gleichermaßen alle Blicke versammelt sind. Niemand lebt in jenem Gebilde der verdichteten Stimmen, nicht einmal der Schriftsteller selbst, die Worte fallen ihm von dort zu, ureigen, und sie gehören ihm doch nicht allein an. In ihnen liegen Welt und Grund und Lust und Furcht und, weil der Schriftsteller nur einer von vielen ist, einer, durch den die Stimmen wandeln und aufs Papier finden, erfasst seine Feder ein Bild, eine Stimmung, eine Epoche. Später wird diese Collage von einer Zeit und Kultur zeugen, und in einem strengen Gedanken eine Erzählung engführen, die aus einem Kaleidoskop der Wahrnehmungen entstanden ist. Eine herausgeschälte Variante, eine freigelegte, nie dagewesene Welt, die in unserer schon enthalten ist. Jede Erzählung fügt uns eine neue hinzu, in jeder vervielfachen wir uns, mit jeder erfinden wir uns, als Individuum, als Gemeinschaft, als Idee. Wir sind aufgefordert, uns zu fragen, welche Erzählungen wir weitertragen, welche wir fortspinnen wollen. An diesem Abend der Eröffnung trägt jeder Redner, jede Rednerin genau dazu bei und in einem sind sich alle einig: Frankfurt ist und wird eine Geschichte der Verständigung und des Verstehens sein, Begegnungen zwischen Menschen zelebrieren und die Vielfalt hochhalten.

Diese Worte tragen mich und meine Kollegin, als wir – noch ein wenig ergriffen vom dunklen Saal ins helle Licht der Halle wandern – mit dem Strom der Besucher nach Georgien. Welch Fest für die Sinne! Das georgische Alphabet, das dreiunddreißig Buchstaben umfasst, ist zur raumgreifenden Installation geworden. Wir lassen uns vom hub of emotions in die georgische Sprach – und Klangwelt mitnehmen, sehen im hub of reflections berühmte Fotografien, vertreten durch die Agentur Magnum, die uns einen visuellen Eindruck der Hauptstadt Tiflis zeigen und stranden dann zwischen Bar und Bühne, indes wir Khatia Buniatishvili,  der Pianistin lauschen, die mit großer Virtuosität und Leidenschaft, in fließender Robe, ihr Publikum berauscht. Den landestypischen Wein braucht es da gar nicht mehr und doch reihen wir uns ein in die Thekenschlange und dann passiert, was passieren kann, wenn sich Zeit und Raum vermengen und Geschichten geboren werden: Ich treffe auf den Doppelgänger eines Kollegen, komme über diese Verwechslung mit ihm ins Gespräch und am Ende der Nacht sind meine Kollegin und ich nicht nur um viele altbekannte Buchmessen-Begegnungen reicher, nein, wir haben auch neue Freundschaften geschlossen. Der Doppelgänger hat seine Freunde und Kollegen aus der brasilianischen Botschaft mitgebracht. Wir lernen eine Schriftstellerin, einen portugiesischen Übersetzer und einen Tangotänzer kennen und werden an diese Begegnung, einige Tage später, im Literaturhaus anschließen.

Auch die kommenden Tage sind reich gefüllt. Es entstehen Buch-Projekte und Kooperationen, ich treffe Literaturagentinnen, Schriftstellerinnen und Verleger, wir machen ein Foto mit dem begnadeten Messe-Meyer, trinken am Stand der „Unabhängigen“ Whisky, arbeiten tags und feiern des Nachts. Wir wissen um die Krise der Branche und die abgesagten Messepartys, und freuen uns, dass das Hörbuch einen Boom zu erleben scheint. Wir sehen die vielen Selfpublisher und Cosplayer durch die Hallen streifen und wissen, die Branche stirbt nicht, die Geschichten sterben nicht. Solange es Menschen gibt, wird es Stimmen geben, die ihren Weg in Erzählungen finden – ob auf Papier oder digital oder ganz anderen Wegen. Vielleicht braucht es neue Formen, vielleicht neue Inhalte, ganz sicher braucht es Mut jenseits der festen Programmplätze Neues zu wagen. Mit Johannes Thiele darf ich einen Verleger kennenlernen, an dessen Stand ich nicht nur hervorragenden Kaffee und einen Sofaplatz inmitten des Messetreibens angeboten bekomme, sondern auch eine Antwort, die mich zutiefst beglückt: „Ich suche nicht, ich finde Geschichten. Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, was genau sie ausmacht. Ich spüre das schon, wenn ich einen Titel lese.“ Johannes Thiele macht nicht nur Bücher, er liebt sie.

Ich könnte noch so viel mehr erzählen von der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, die mich jedes Jahr aufs Neue beflügelt und mich dann mit einem melancholischen Lächeln und dem Messeblues im Gepäck zurückschwemmt, aber ich ende mit diesen Eindrücken und mir bleibt nur, danke zu sagen, für all die Begegnungen und Buchwelten, an denen ich, als Autorin, Kollegin, Schreibcoach, Lektorin oder schlicht als Leserin, Anteil haben darf. Auf ein Neues in Leipzig 2019!

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