Alexandra Harth erhält Schreibhain-Stipendium
Wir gratulieren Alexandra Harth, die mit ihrem Romanauszug „Als ich in tobenden Zeiten schlief“ ihre Leser*innen mit überreichen sinnlichen Eindrücken in den Bann ihrer Geschichte zieht. Die Erzählstimme versetzte die Jury mühelos und – ähnlich wie die Wassermassen, die im Text auf die Figuren niedergehen – ohne eine Möglichkeit sich diesem Sog zu entziehen ins Jahr 1943 und nach Mexiko-Stadt. Ein sprachlich gekonnter, präszise wie rhythmischer Text, der die Rezepient*innen beinahe spielerisch in einen dreidimensionalen und eindrücklichen Kosmos führt.
Romanauszug: Als ich in tobenden Zeiten schlief von Alexandra Harth
Mexiko-Stadt 23. Juni 1943
Colonia la Condesa
Seit Tagen hatte es schon geregnet. Das deutsche Wort Regen war eigentlich kein Ausdruck für die Wassermassen, die vom Himmel fielen. – está lloviendo a cántaros – wie die Mexikaner sagen – es schüttete, als hätte der Wettergott seine Schleusen nur an einem Punkt der Erde geöffnet: über der mexikanischen Hauptstadt. Die stand unter Wasser. Land unter, wohin man schaute. Teichartige Pfützen hatten sich in den Straßen gebildet, die Schlaglöcher auf der Fahrbahn verschwanden unter seegroßen Flächen, die Fußgänger standen bis zu den Knöcheln im Wasser. Verzweifelt versuchten Kellner, Angestellte und Verkäuferinnen die Fluten mit Besen und Schaufeln aus ihren Geschäften herauszuhalten. „Caballero – wenn du jemals so hart arbeiten würdest, wie du Wasser schippst, dann wärst du der reichste Mann Mexikos“. „Und wenn du jemals so schnell schippen könnest, wie dein Mundwerk geht, dann würde dein Geschäft trocken bleiben“, warf der Angesprochene zurück und sein Lachen schallte durch die früheinbrechende Dunkelheit.
Im kleinen Mercado in der Calle Toledo regnete es durch die Decke, die aufgeregte Putzfrau versuchte die Gänge zu trocknen, während die in einen blauen Kittel gehüllte Kassiererin ungerührt und Chicle kauend unter schweren Lidern durch das Schaufenster auf die Straße blickte und auf den Feierabend wartete. Anna sammelte gedankenverloren Mais und Avocados in einen der Körbe. Normalerweise machte das Carlos für seine Kunden, aber der Chef war mit Wasserschippen beschäftigt und sie wollte die ihren Träumen nachhängende Kassiererin nicht stören. Die Mangos verströmten auch bei diesem Wetter einen schweren Duft. Anna dachte daran, dass Xavier gesagt hatte, ein mexikanischer Liebhaber vergleiche seine Angebetete gern mit dieser gelb-rosafarbenen Frucht und ihrem weichen Fleisch. Irgendwie erschien ihr das Kompliment unpassend. Was würde man zu Hause sagen? Apfelbäckchen? Kirschenmund? Mangelaugen? Sie sah die Marktstände neben der Basilika in Mainz vor sich, mit ihren Äpfeln und Birnen im Spätsommer, und ein unendliches Heimweh überkam sie heute nicht zum ersten Mal.
Auf der Straße vor dem Fenster sah sie Steffie Spira vorbeihuschen, gehüllt in ein Regencape war sie wohl auf dem Weg nach Hause. In dieser Zwei-Millionen-Stadt rückten die deutschen Flüchtlinge eng zusammen. Wohnten meist nur wenige Straßenzüge voneinander entfernt in der Colonia Condesa. Fühlten sich wie fremde Splitter im mexikanischen Fleisch, Strandgut im Paradies, hatten Sehnsucht, brauchten einander, waren eine „Familie“ und hassten sich gleichzeitig bis aufs Blut. Anna sah, wie Steffie die Straße überquerte und im Regenschleier verschwand. Das Exil in Mexiko war auch nicht besser als das Leben auf dem Dorf, als stünde hinter jedem Vorhang eine Nachbarin, die das Treiben auf der Straße genau beobachtete. Wenig blieb im Verborgenen, alles wurde kommentiert.
Anna sah noch einen Moment in die wilden tropischen Wassermassen. Dachte an das deutsche Nieselwetter im Herbst. Die grauen Tage im Berliner Winter. Den nasskalten Wind, der an der Spree fegen konnte. Auch wenn hier und heute ihr Heimweh groß war, würde sie irgendwann einmal die Sehnsucht nach den Regentagen Mexikos plagen? Hoffentlich! Denn das bedeutete, dass sie eines Tages alle nach Deutschland zurückkehren konnten. Sie legte noch drei Papayas in den Korb und ging zur Kasse. „Buenas tardes, señora. ¿Cómo está?“ „Bien, gracias. Y Usted?“ Die Verkäuferin kannte sie schon und bemühte sich langsam zu sprechen, wie mit einem Kind, das manchmal ein bisschen schwer von Begriff ist.
„Woher kommen Sie nochmal, Señora?“, fragte sie, als sie sich gerade zum Gehen wandte.
„Aus Deutschland“, erwiderte Anna. „Alemania.“
Ein Blick, als suche sie nach Spuren der fantastischen Herkunft. „Ist das in Amerika?“
„Nein, nein, viel weiter, in Europa“.
Die Mexikanerin lächelte unsicher. Anna hätte genauso sagen können: „Auf dem Mond.[1]“
„Na, dann schönen Abend noch. Kommen Sie gut nach Hause!“
Sie nahm ihre Einkäufe und trat auf die Straße, ließ den Regenschirm gleich geschlossen, es wäre vergebens gewesen. Das Wasser war ein schwerer Vorhang, undurchdringlich und nicht zu öffnen.
Sie musste jetzt dringend nach Hause. Die Kinder warteten. Anna eilte zum nächsten Unterstand und lehnte sich dort für einen Moment gegen die Hauswand. Das Wasser hatte bereits ihre Kleider durchnässt und tropfte aus ihren zum Knoten geschlungenen Haaren. Trotz des Regens fror sie nicht, die Luft war warm, die Regenzeit hatte schon länger begonnen. Über die sechsspurige Fahrbahn des Paseo de la Reforma schoben sich um diese Uhrzeit die Autos – fast Stoßstange an Stoßstange. Die Hauptstadtbewohner beendeten ihre Arbeit und machten sich auf den Weg nach Hause, die Dienstmädchen kletterten in die kleinen Busse, die sie zurück aus dem Zentrum in ihre Hütten am Stadtrand brachten, die reichen Mexikaner stiegen in ihre schwarzen Limousinen und ließen sich von den Fahrern zurück in ihre Villen in Coyacan bringen oder in die schönen Häuser gleich neben dem Park von Chapultepec. Anna ging meistens zu Fuß, sie brauchten zwar nicht mehr jeden Centavo umzudrehen, aber sie sparte, wo es ging, damit sie sich den Umzug aus der Rio de la Plata in das kleine Haus in Tacubaya leisten konnten. Wenigstens am Ende des Tages wollte sie noch zwei Stündchen …– Stündchen – sie dachte schon wie die Mexikaner, die an alles diese albernen Verniedlichungsformen hängten- Annasita, ahorita, pregundita…- also zwei Stunden – es waren deutsche Stunden, und die wollte sie mit Ruth und Peter verbringen, bevor sie sich wieder auf den Weg machen musste, um im Heinrich-Heine-Club zu lesen.
Ihre Kinder, groß geworden im Exil, viel zu früh selbstständig – und trotzdem wartete vor allem die Kleine jeden Abend am Fenster und sobald sie Anna oder Rodi erblickte, stürmte sie zur Tür. Zum Glück konnten sie jetzt eine criada für ein paar Stündchen bezahlen, Guadalupe kochte, sprach mit den Kindern Spanisch, sang für sie Mi cielito lindo und erzählte Geschichten über die beiden Vulkane, die man an klaren Tagen von der Stadt aus sehen konnte: Popocatépetl und Iztaccíhuatl. Die beiden schneebedeckten Feuerberge, die wie ein Liebespaar neben einander liegen, so sagt es die Legende. Romeo und Julia von Mexiko. Ruth und Peter können von Guadalupes tragischer Liebesgeschichte nicht genug bekommen, während auf dem Herd die Bohnen kochen, frijolitos, an deren Schärfe sich die Kinder längst gewöhnt haben… In Annas Gedanken schlich sich plötzlich ein eigenartiges Verlangen. Sie meinte tatsächlich an jenem Abend auf dem Paseo de la Reforma den Geruch des Sauerbratens am Sonntag zu riechen, Apfelmost dazu und den Streuselkuchen, den Mutsch immer gebacken hat.
Für einen Moment verlor sie die Balance. Stützte sich an der Hauswand ab. Ihr Herz klopfte wild. Sie versuchte sich mit ein paar tiefen Atemzügen zu beruhigen. Zum Glück hatte ihr Vater nicht mehr erleben müssen, wie Mama ins Judenhaus umgesiedelt wurde. Ihr Gewissen wollte einfach keine Ruhe geben. Sie hörte die Stimme ihrer Mutter. Geh, mein Liebstes, geh, komm bloß nicht wieder. Geh, bevor sie dich und Laszlo noch einmal abholen. Du musst die Kinder in Sicherheit bringen. In letzter Minute waren sie dann in die Schweiz geflüchtet und von dort zu Fuß nach Frankreich. Zuerst ohne die Kinder. Die hatte die Mutter dann später mit dem Zug nach Straßburg gebracht. Wie unglaublich glücklich war sie gewesen, als sie Ruth und Peter endlich wieder auf dem Bahnsteig in die Arme schließen konnte. In Peters Tasche fand sie abends beim ins Bett bringen einen Tannenzapfen, ein bisschen Sand vom Rheinstrand und ein paar vertrocknete Gräser. Die ganze Heimat in ihrer Hand.
Ein Lastwagen hupte lang und anhaltend und sie hörte wieder das Prasseln, stellte fest, dass sie nicht in der Küche in Mainz stand, sondern auf dem Paseo de la Reforma. Der Regen schien für einen Moment nachzulassen. Sie atmete noch einmal tief durch und machte sich für eine schnelle Überquerung des ersten Teils der Straße bereit. Wenigstens bis zum Mittelstreifen mit seinen Blumenkästen und Bänken wollte sie es schaffen. Ihr linkes Bein versank in einer Pfütze, mit deren Tiefgang sie nicht gerechnet hatte. Die Kleider klebten am Leib, sie war durchweicht bis auf die Unterwäsche, hätte ebenso gut nackt durch dieses Wetter laufen können. Sie blickte nach rechts, dann nach links und dann sah sie ein Licht, hell und warm, auf der anderen Straßenseite und meinte plötzlich ihren Kindernamen zu hören: „Netty!“ rief eine Stimme. Wer oder was war das? Sie musste zu dieser Stimme. Netty! Netty Reiling! Wie lange hatte sie niemand mehr so genannt. Dieser Name hatte ihr das Leben gerettet. In Frankreich, als sie auf das Visum nach Mexiko gewartet hatte. Untergetaucht in Marseilles, das bange Warten auf Laszlo, endlich hatte man ihn aus Le Vernet gehen lassen. Obwohl sie beide auf der schwarzen Liste der Nazis standen. Aber sie hatte man dort mit ihrem Künstlernamen vermerkt: Anna Seghers. Nach der wurde gefahndet. Ihren Mädchennamen hingegen hatte man vergessen und das war ihr Glück gewesen, obwohl es dann später wiederum ein Drama war, weil der Pass, mit dem sie in die USA einreisen wollten, auf Seghers ausgeschrieben war. Und das gefiel den Amerikanerin gar nicht, denn sie war bekannt als Autorin mit roter Gesinnung. Also suchte man eine Ausrede, damit die Familie nicht ins Land gelangte und diese Ausrede hieß Ruth und ihre Augen. Sie habe eine Sehbehinderung und sei deshalb nicht gesund genug, den heiligen Boden der Vereinigten Staaten zu betreten. Also wieder aufs Schiff und weiter, über die Karibik, endlose Reise, bis sie endlich in Vera Cruz von Bord gehen konnten und ein Land die Türen öffnete und sie willkommen hieß: Mexiko!
Netty!
Ich komme, Mama, ich komme!
Sie rennt. Vielleicht wird sie gleich ankommen. Vielleicht kann sie sich retten. Vielleicht ist sie gleich zu Hause. Vielleicht. Ist. Bald. Alles. Vorbei.
Als der Krankenwagen 15 Minuten später eintrifft – keiner weiß, wer ihn gerufen hat – finden die Sanitäter eine circa 40jährige Frau auf dem Mittelstreifen des Paseo de la Reforma, mit schwerer Kopfverletzung und verrenkten Gliedern – eindeutig hat sie der Zusammenprall mit einem Auto dorthin geschleudert. Neben ihr verstreute Einkäufe: Mangos, Avocados und Papayas – Früchte die man in Deutschland nicht kennt – aufgeplatzt wie ihre Stirn. Vom Unfallauto keine Spur. Die Frau ist ohne Bewusstsein. Keiner weiß, wer sie ist. Eine Gringa. Schaulustige versammeln sich und diskutieren des Geschehen. Die Verletzte stöhnt auf. Sie scheint noch zu leben. Man nickt zufrieden. Entfernt sich vom Unfallort. Sowas passiert. Bei diesem Wetter. Nur einer bleibt. Tritt neben die Sanitäter. Wohin bringen Sie die Frau? Zur Erste-Hilfe-Station. Calle Monterrey. Er tippt an seinen Hut und geht.
Der Regen hört plötzlich auf.
[1] Zitat aus der Kurzgeschichte „Der Ausflug der Toten Mädchen“ von Anna Seghers
Vita
Alexandra Harth studierte Germanistik und Journalistik in Frankfurt, Bamberg und Galway und volontierte danach bei der Deutschen Welle in Köln und Berlin. Als freie Journalistin, Konzepterin, Sprachdozentin und Yogalehrerin schlug sie sich mit Mann und drei Kindern jahrelang durch das Berliner Freiberuflerleben. Sie entwickelte u.a. gemeinsam mit anderen Autoren im Auftrag der Deutschen Welle das didaktische Hörspiel „Harry – gefangen in der Zeit“ und leitet in Kooperation mit der Theaterpädagogik des Maxim-Gorki-Theaters Berlin dieses Frühjahr im Auftrag des Goethe-Instituts Usbekistan mehrere Workshops zum Thema „Spielend Sprache lernen“.
Jahrelang schrieb sie nur noch berufsbezogene Texte für den Unterricht, bis sie 2016 in einem kreativen Schreibkurs endlich wieder ihre Lust am eigenen literarischen Wort entdeckte. Nach einem Auslandseinsatz in Mexiko-Stadt arbeitet sie seit 2019 an ihrem Roman „Als die Zeit schlief“ über das Exil der 40er Jahre in Mexiko. Seit einem Jahr gehört sie zu einem Schreibzirkel, der sich in Pandemiezeiten täglich online trifft, um gemeinsam zu schreiben und sich über das Geschriebene auszutauschen. Aktuell arbeitet sie an der Erzählung „Als ich Anna Seghers Radfahren beibrachte“, die im Berlin der 30er Jahre kurz vor der Machtergreifung spielt.
An dem Mexiko-Roman „Als die Zeit schlief“ hat bereits eine Agentur Interesse bekundet, der der erste Teil des Manuskripts vorliegt. Mithilfe des Schreibhain-Stipendiums möchte sie diesen Roman so weiterentwickeln und bearbeiten, dass er realistische Chancen auf eine erfolgreiche Veröffentlichung hat und gleichzeitig an neuen Ideen und Texten für die Zukunft spinnen und schreiben.