Wir freuen uns sehr, nach schlaflos arbeitsreichen Nächten, unter mehr als 100 Einsendungen unseren Gewinnertext für die neue Autorenausbildung (Jahrgang VI) gefunden zu haben. Unser Stipendiat ist Jörn Gerstenberg, dessen Kurzgeschichte „Die Plage“ uns mit ihrer traumverwobenen Motivik gefangen genommen und nicht wieder losgelassen hat.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors präsentieren wir Jörns Schaffen nicht nur durch seine Kurzvita und sein Foto, sondern auch anhand seiner Worte.
Kurzvita
Ich arbeite als bildender Künstler. Schwerpunkt meiner Tätigkeit sind Drucke und Zeichnungen, die öffentliche Gebäude sezieren und als minimalistische Architektur-Phantasien abbilden.1969 wurde ich in Berlin geboren, absolvierte zunächst eine Ausbildung zum Schaufensterdekorateur. Nach einigen Semestern Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität wechselte ich 1993 an die Hochschule der Künste Berlin (heute UdK). Ich beendete das Studium der Freien Kunst 2000 als Meisterschüler. Während des Studiums begann ich mit Wandzeichnungen im öffentlichen Raum und nahm an internationalen Ausstellungen teil. Ich beteilige mich kontinuierlich an Ausstellungsprojekten. Seit 2009 arbeite ich auch als Autor und Kurator für künstlerische Projekte. 2015 begann ich, Kindergeschichten für den Rundfunk zu schreiben. Ich arbeite seit 2009 an zwei umfangreichen Romanmanuskripten (Erwachsene als Zielgruppe), wovon ich eines beendet und die Arbeit am anderen gerade wiederaufgenommen habe. In beiden Projekten vermische ich realistische mit phantastischer Literatur. Damit versuche ich einerseits, historische Szenerien neu zu beleuchten, andererseits, biografischem Material eine universale Struktur zu geben.
Jörn Gerstenberg: Die Plage
Ich kam an dem alten und ziemlich schäbigen Haus vorbei, in dem sich mein verlassenes Atelier befand. Als Autor war ich ein Anfänger. Doch hatte ich jahrzehntelang als Zeichner gearbeitet. Wie besessen war ich mit übermäßig detaillierten Zeichnungen auf alten Papieren beschäftigt gewesen, die ich aus antiquarischen Büchern herausgeschnitten hatte. Im Laufe der Zeit häuften sich Tausende von Zeichnungen in meinem Atelier an. Doch dann kam die Plage über mich. Vielleicht kroch der erste Käfer aus einem der alten Bücher, die ich auf Flohmärkten gekauft hatte. Jedenfalls fand ich ihn auf meinem Zeichentisch. Er war so groß wie der Nagel meines Zeigefingers. Der Käfer war pechschwarz, wies einen blutroten Rand auf, hatte kräftige, gezackte Beine und ausgeprägte Mundwerkzeuge. Er fraß gerade ein riesiges Loch in eine Zeichnung, an der ich bereits eine Woche lang gearbeitet hatte. Ich drückte meinen Daumen auf seinen Rücken. Der Käfer brach auseinander und eine erstaunliche Menge Blut ergoss sich auf die Zeichnung. In den folgenden Tagen entdeckte ich in den Ecken meines Arbeitsraumes etliche dieser Tiere. In den Schubladen der Zeichenschränke wimmelte es plötzlich von fleischfarbenen dicken Maden, die sich im Lichtschein wie eine Ziehharmonika zusammenzogen und dann einen der Käfer ausspien. Dieser ließ eine leere Haut urück und stürzte sich in sein zerstörerisches Werk. Mittlerweile gab es Hunderte dann Tausende und Abertausende dieser Tiere in meinem Atelier. Sie zerfraßen meine Arbeiten von über zwanzig Jahren innerhalb weniger Wochen. Ich war wie gelähmt vor Ekel und Scham darüber, dass ich der Plage nicht Herr wurde, ja sogar gar nichts dagegen unternehmen konnte. Bald bestand das Atelier nur noch aus übelriechendem Papierbrei und dem schwarzen Gewimmel des Ungeziefers.
Ich floh aus meinem Atelier. Und hatte es nun seit fast zwei Jahren nicht mehr betreten. Auf dem Rückweg von dem Kunstmuseum, wo ich jobbte, hielt ich vor der Haustür an. Am Klingelbrett stand noch immer mein Name. Die Miete für die Räume überwies ich weiter an die Hausverwaltung. Ich trat auf die gegenüberliegende Straßenseite und blickte zu den Fenstern im zweiten Stock hoch. Auf der Innenseite der Glasscheiben klebte ein dicker schwarzer Belag. Ich wohnte inzwischen in einem kleinen Zimmer einer chaotischen Wohngemeinschaft. Zum Schreiben suchte ich Obdach in billigen Cafés oder Lesesälen. Um Geld zu verdienen arbeitete ich als Ausstellungs-Aufsicht. Abzüglich der Kosten für Zimmer und Ateliermiete blieb kaum etwas übrig. Es fehlte oft am Nötigsten. Trotzdem konnte ich mich nicht überwinden, das Atelier zu räumen. Jede Woche ging ich hin, um in den Briefkasten zu schauen. Am Beginn meines Exils kontrollierte ich die Tür im zweiten Stock und inspizierte gründlich die Ritzen zwischen Tür und Rahmen, sowie das Schlüsselloch. Nachts träumte ich immer wieder, dass aus dem Atelierraum die Käfer nach außen drangen und das ganze Haus verpesteten. Ich kaufte Insektenspray und sprühte, wenn ich sicher war, dass die Nachbarn nicht im Haus waren, das Insektengift durch die Türritzen und das Schlüsselloch. Auf der anderen Straßenseite befand sich ein kleines Bistro.
„Neros Grill“ war so etwas wie meine Kantine gewesen. Jeden Tag hatte ich dort etwas gegessen. Eine Menge preiswerter Fleischgerichte standen auf der Menükarte. Es gab riesige Portionen, von denen mir regelmäßig schlecht wurde. Doch ich konnte nichts übrig lassen und hielt den Zustand, übersättigt zu sein, für normal. Nero, der Besitzer des Bistros meinte oft zu mir: „Herr Doktor, Sie müssen essen. Fleisch ist das beste. Wer nur für die Arbeit lebt, muss viel Fleisch essen.“ Seit Jahren saß ich täglich in seinem Grill und trotzdem gingen wir sehr vorsichtig miteinander um. Die Arbeiter, die zum Mittagessen kamen, hatten ihm den Spitznamen „Kaiser“ gegeben. „Kaiser, mach mir einen Dönerteller, lass Salat weg, hau richtig Fleisch rauf.“ Anfänglich war ich mit Nero ins Gespräch gekommen. Im Libanon war er ein Lehrer gewesen. Dann war seine Familie umgekommen. Das hatte mich geschockt und das Gespräch war versandet. Eigentlich genau an jenem Tag eingefroren worden.
Ich hatte nie eine Familie. Ich bewunderte Menschen, die sich um Kinder kümmerten und eine Beziehung pflegten. Aber ich dachte, es wäre für mich nicht machbar. Mir dann vorzustellen, ich hätte eine Familie und die würde dann ausradiert werden, haute mich fast um. Mir fiel kein Trost ein. Vielleicht konnte auch Nero selbst mit seinem Elend nicht umgehen. Er briet Fleisch. Jeden Tag, ohne Urlaub. Ich aß das Fleisch. Obwohl mich die Portionen oft für Stunden außer Gefecht setzten. Das Fleischessen war mir allerdings in meiner neuen WG verleidet worden. Der Hauptmieter war ein konsequenter Veganer, der es nicht duldete, dass in seinem Kochgeschirr Fleisch gegart wurde. Notgedrungen fügte ich mich der Speisediktatur. Ich kochte billiges Gemüse. Bald kam ich auf den Geschmack und stellte meine Ernährung um. Das vegane Essen bekam mir ausgezeichnet. Ich wurde schlanker und fühlte mich wohler in meiner Haut. Dennoch saß ich weiterhin in „Neros Grill“, trank Kaffee und starrte mit einem Fernglas auf die Fenster meines gegenüberliegenden Ateliers. Der schwarze Belag hinter den Fenstern wirkte wie ein Fell. Er sah aus wie ein Vorhang aus langhaarigem Pelz, dessen Haare sich im Wind bewegten. Erst versuchte ich möglichst unauffällig mit dem Fernglas zu hantieren. Doch als ich merkte, dass es niemanden interessierte, was ich da machte, wurde ich absolut unbefangen. Am Tag meines fünfzigsten Geburtstages saß ich versunken in „Neros Grill“ und starrte auf die Atelierfenster. Am Rande meiner Aufmerksamkeit registrierte ich drüben eine Frau im Hauseingang. Sie stand vor den Klingelschildern, sah nach oben auf die Fassade und wechselte dann die Straßenseite. Gerade versuchte ich mit Hilfe meines Fernglases zu beobachten, ob die Bewegungen der Fellhaare allmählich nachließen oder sich eher steigerten, da öffnete sich die Tür des Bistros. Die Frau von eben trat ein. Ich setzte das Fernglas ab und sah zu ihr hin. Sie rief mir lächelnd zu: „Happy Birthday, Freddy! Hier sitzt er also, der große, einsame Künstler.“ Es war Maria, meine beste Freundin aus der Studienzeit. Ohne sie wäre mein Leben sehr finster verlaufen. Finsterer als es ohnehin schon war. „Dich finde ich überall, Freddy. Ob im Krankenhaus am Rande der Stadt, in fernen Ländern, großen Städten oder in deinem geheimen Refugium in diesem gammligen Viertel der Stadt. Und nur weil ich wissen möchte wie es dir geht!“. Ich erzählte ihr, dass sich meine Arbeit verändert hat. „Ich bin jetzt mehr Autor als Zeichner.“
„Ach so“, Maria verdrehte die Augen, „Ich dachte schon, du liegst da oben in deinem Studio als Mumie herum.“
„Ich habe kein Atelier mehr. Ich bin jetzt Autor.“
„Warum steht dann dein Name an der Haustür?“
„Ist untervermietet an einen geheimnisvollen Herrn.“
„Willst du mich veralbern? Du bist wirklich merkwürdig. Und warum glotzt du mit dem Fernglas herum wie ein Spanner?“
„Recherche für meinen Roman.“
„Worum geht es denn?“
„Es ist eine Phantasie-Geschichte. Ein Reiseschriftsteller kommt in eine abgelegene Stadt am Rande Chinas. Es ist eine hypermoderne Satellitenstadt. Die Hochhäuser sind abends hell erleuchtet. Es fahren Züge in den Bahnhöfen ein und aus. Doch alle Glasscheiben sind aus Milchglas. Hinter den Fensterscheiben sieht man Silhouetten und Schatten, die unmöglich von Menschen stammen können. Der Autor soll den Direktor der größten Fabrik dieser Stadt interviewen. Er kommt dahinter, dass die Stadt von Insekten regiert wird. Die Menschen dienen nur noch vorübergehend als Tarnung.“
„Ja, Herr Seltsam, das passt zu dir. Weißt du, ich bin hier,um mich zu verabschieden. Ich verschwinde aus Europa und möchte ungern das Gefühl haben, dich nicht noch einmal gesehen zu haben. Sieh mal, was da über dir auf dem Regalbrett steht! Mein Lieblingstier. ‚Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe/ so müd geworden, daß er nichts mehr hält./ Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe/und hinter tausend Stäben keine Welt.‘ Von wem ist die Rede?“
Ich sah in die Richtung, die Maria zeigte. Dort stand ein großer Keramik-Panther. Ich erinnerte mich an das Gedicht.
„Du meinst Rilke.“
„Der Kandidat bekommt hundert Punkte.“
„Wieso gehst du weg, Maria? Ich dachte, du bist glücklich mit deinem Mann und deinen Kindern.“
„Eines schließt das andere nicht aus, Freddy. Mach‘s gut. Wir sehen uns nicht wieder.“
Mir schossen die Tränen in die Augen. „Aber wir vergessen uns nicht, oder?“, fragte ich hilflos.
„Ob du mich vergisst, kann ich nicht beeinflussen. Ob ich dich vergesse, kannst du mitbestimmen.“
„Ich möchte dir etwas auf den Weg geben.“ Einer plötzlichen Eingebung folgend, lief ich zum Tresen. Dort stand Nero an die fleckige Wand gelehnt und verschmierte die Oberfläche seines Smartphones. Ich fragte ihn, ob er mir den Panther verkauft.
„Den schwarzen Tiger? Das ist altes Porzellan. Sagen wir: Zweihundert Euro.“ Ich versuchte zu handeln. Er meinte, ich brauche ihn ja nicht zu kaufen. Ich sah, wie Maria aufstand, und zur Tür ging. In meiner Brieftasche trug ich meistens mein halbes Monatsbudget in kleinen Scheinen mit mir herum. Ich drückte Nero einen Stapel davon in die Hand, schnappte mir die Keramik und holte Maria auf der Straße ein.
„Das möchte ich dir schenken als Erinnerung. Und das Gedicht ging noch weiter: ‚Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille/sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille –/und hört im Herzen auf zu sein.‘“
Maria lächelte schräg. „Freddy, in dieser Hinsicht ist Verlass auf dich. Danke für das Souvenir.“
„Es ist nicht irgendein Nippes. Es ist altes Porzellan.“
Maria drehte den Panther um. Auf der Unterseite klebte ein Schild: „Dodos Preiskeller. Sonderposten. 12.99 Euro“.
„Alter Aufschneider!“, Maria war amüsiert. „Ciao Freddy.“
Sie stieg in eine große Limousine und legte den Panther auf den Beifahrersitz. Maria lenkte das Auto mit Schwung auf die Fahrbahn. Ich beschloss, „Neros Grill“ nie mehr zu betreten. Das Fernglas ließ ich einfach zurück.
In der WG war Zahltag. Panisch stellte ich fest, dass mein Geld gar nicht mehr reichte, die Zimmermiete zu bezahlen. Der Hauptmieter wurde sehr ärgerlich. Es war nicht das erste mal. Ich solle heute noch Geld auftreiben oder morgen mit meinen Sachen verschwinden, brüllte er. Im verlassenen Atelier hatte ich, so erinnerte ich mich, einen Geldvorrat. Es war mein Notgroschen in einer verschlossenen Blechdose. Ich holte das Insektenspray aus meinem Zimmer. In meine Tasche packte ich hohe Stiefel, einen Regenmantel, Mütze und Halstuch. Aus der Küche stahl ich Gummihandschuhe. Ich fuhr mit dem Fahrrad zum Atelierhaus. Das Viertel war menschenleer. Sogar „Neros Grill“ war dunkel. Das hatte ich noch nie erlebt. Im Hausflur zog ich mich um. In meiner improvisierten Schutzkleidung sah ich vermutlich aus, wie ein Imker aus der autonomen Szene. Mit der linken Hand hielt ich die Spraydose, in der rechten den Atelierschlüssel. In dem Moment, in dem ich aufschließen und das Gift ins Atelier sprühen wollte, hörte ich Stimmen vom Treppenabsatz über mir.
„Halt Stopp! Sind Sie wahnsinnig!“. Zwei Polizisten stürzten auf mich zu. „Was machen Sie hier? Das Viertel ist gesperrt. Es ist Ausgangsverbot, bis die Gefahr vorüber ist!“
„Ich will doch nur hier rein. Dort wohne und arbeite ich.“
„Waren Sie gerade auf der Straße?! Sie sind lebensmüde! Gehen Sie jetzt in ihre Wohnung.“ Die Polizisten trugen Maschinenpistolen.
„Was ist denn eigentlich los?“
„Hören Sie kein Radio oder so? Hier ist ein Raubtier ausgebrochen. Aus dem Zirkus nebenan. Ein schwarzer Panther.“
Der andere Polizist schnaufte ärgerlich: „Was erzählst du! Ein Panther ist immer schwarz. Wenn du ‚schwarzer Panther‘ sagst, ist das total überflüssig. Es heißt ja auch einfach nur ‚Robbe‘ und nicht ‚Seerobbe‘. Schließlich gibt es auch keine ‚Meerwale‘, denn es gibt Wale nur im Meer. Und so ist ‚schwarzer Panther‘ zu sagen, absolut sinnlos. Außerdem ist es gar kein Panther, sondern ein Eisbär. So ein Durcheinander! Und Sie hier,“ der Polizist wendete sich zu mir, „gehen jetzt in ihre Bude.“
Ich schloss die Tür auf und guckte die Polizisten hilfesuchend an. Der eine schob mich ins Atelier, der andere schloss die Tür hinter mir. Das Licht funktionierte nicht. Unter den Sohlen meiner Stiefel knirschte es, als zerträte ich Muschelschalen. Im Finsteren glomm durch den Spalt der Zimmertür ein grünliches Leuchten.