Am letzten Mittwoch war ich mal wieder unterwegs. Diesmal in der Z-Bar in Mitte. Der Literarische Salon Berlin lud dort zu einer Lesung mit Peter Wawerzinek.
Einigen von Euch dürfte Peter Wawerzinek noch durch sein Abräumen von Jury- wie Publikumspreis für seinen Roman Rabenliebe (Galiani-Verlag) beim Bachmannpreis oder durch seine fulminante wie unprätentiöse Eröffnungsrede in Klagenfurt im folgenden Jahr in Erinnerung sein. Für all die Anderen, hier ein paar Hintergründe zur Person des Autors:
Peter Wawerzinek, Jahrgang 1954, geboren in Rostock, aufgewachsen in verschiedenen DDR-Kinderheimen, und später von einem Lehrerehepaar adoptiert, lebt seit 1988 als freier Schriftsteller und Performer. Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger gelangte er zusammen mit Matthias BAADER Holst, zu einiger Berühmtheit, mit spontanen Vorlesetourneen durch die DDR. (Es gibt dazu ein Buch von BAADER Holst, das auch eine DVD enthält, das ich nur wärmstens empfehlen kann). Später war er das, was man einen Berliner Szene-Autor nannte. Nachdem ihn seine ausufernde Alkoholsucht in den Nullerjahren für einige Zeit von der Bildfläche verschwinden ließ, feierte er 2010 mit seinem autobiografischen Roman Rabenliebe ein vielbeachtetes Comeback. In Rabenliebe beschreibt er seine Kindheit und die lange Suche nach der Mutter, die ihn und seine Schwester als Kind zurück gelassen hatte.
In der Lesung von letztem Mittwoch, trug er nicht, wie man vielleicht erwarten sollte, sein neuestes Buch vor, vielmehr las er aus dem vorletzten: seinem Roman Schluckspecht (Galiani-Verlag) von 2014. Hierin verarbeitet Wawerzinek seine eigenen Erfahrungen mit der Alkoholsucht. Genauer gesagt, er besingt die Sucht, den Rausch, den Absturz, das Leben in der Abhängigkeit; all die Bezüge, die dem Trinker Sinn in seiner Existenz geben und die Unsinnigkeit des Absturzes und des Verfalls.
Schon früh kommt der Protagonist des Romans mit seinem späteren Suchtmittel in Berührung. Wie Wawerzinek selbst ein Waisenkind, wächst er bei einem skurrilen Paar in der DDR-Provinz auf, Tante Lucy und Onkel Onkel. Letzterer ist ein passionierter Trinker und Liebhaber von Rotwein aus dem Jura, weswegen alle ihn nur den „Juristen“ nennen.
Besagte Tante Lucy hält ihm ein Glas Likör unter die Nase und warnt ihn vor dem Teufel Alkohol. „Werd mir nur kein Schluckspecht! -Egeszsegdre-Palinka.“
Dabei steigt ihm der Alkoholdunst in die Nase, und vielleicht, so spekuliert der Ich-Erzähler, wäre er verschont geblieben, wenn er wie ein Delphin beim Abtauchen, mit einem Muskel die Nasenlöcher hätte verschließen können.
Er bleibt natürlich nicht verschont. Es folgen nächtliche „Einbrüche“ in den Keller und das Laben an den dort gelagerten Alkoholvorräten. Später ein Initiationsritual durch Onkel Onkel, der ihm in seinem Teil des Gartens, seinem „Jura“ wie er es nennt, ins Saufen einführt. Dann das Trinken in der DDR-Dorfkneipe als Jugendlicher. Exzesse in der Großstadt. Exzesse als Mitropa-Kellner. Langsamer und allmählicher beruflicher Abstieg. Bis er schließlich, halb kommatös, in der vermüllten Berliner Wohnung dahin darbt. Aus dieser Lage errettet ihn Tante Lucy und bringt ihn zurück in die Provinz, wo er mit der Therapie durch einen dort ansässigen Arzt den langsamen Wiederaufstieg beginnt.
Wawerzinek trägt das alles mit einem breiten Bariton vor, fast musikalisch; in einem Vortragsstil, in dem das ausschweifende Plaudern über das eigene Leben in den Vortrag des Textes hinüber gleitet und wieder zurück, wie die Handlung des Romans zwischen Fiktion und Autobiografie oszilliert.
Ich habe an diesem Abend unzählige Anekdoten gehört, von denen ich aus der Erinnerung schwer zuordnen kann, ob sie aus Wawerzineks Leben stammen, aus dem Roman oder aus beidem.
Da ist der Postbote, der regelmäßig zu einem Schnäpschen bei Tante Lucy und Onkel Onkel hereinschneit und dann über den feinen Unterschied zwischen dem gewöhnlichen, kaputten Säufer und dem erhabenen, gleichsam eine Art Künstler der Sucht seienden Trinker, schwadroniert.
Über selbst darstellerische Höhenflüge in Mitropa-Bordrestaurants. Kaputte Gestalten in Kneipen. Der Geist von Jim Morrison. Über Entschuldigungen an Menschen für Beschimpfungen, die nie stattgefunden haben und das ständige schlechte Gewissen, weil sich der Schluckspecht eben nie genau an das erinnert, was er am Vorabend getan hat, nachdem, alkoholinduziert, seine Stimmung von heiter auf krawallgebürstet gekippt ist. Die Stimme von Janis Joplin, seelengewandert in das Organ von Tante Lucy.
Natürlich dachte ich gleich an Bukowski, was aber zu naheliegend ist, um darauf näher einzugehen. Mir kamen auch „Smoke“ und „Blue in the Face“ in den Sinn, jene beiden Filme aus den Neunzigern, in denen Regisseur Wayne Wang, vor allem in Letzterem, einen Abgesang auf den Kult um den Blauen Dunst sang. Wawerzinek geht bei seiner Sucht und Suchtmittelhymne jedoch, weiter. Er ist – ich weiß, das Wort klingt abgenudelt, aber trifft hier zu – schonungsloser. Er inszeniert nicht nur den Suff und seinen Pathos, seine, im baudelaireschen Sinne, bizarre Schönheit und auch seine kalauernde Skurrilität, sondern auch das langsame, grausame Siechen und Sterben. Man muss sich in „Blue in the Face“ neben Jim Jarmusch, Madonna und Lou Reed den Marlboromann im Endstadium seines Lungenkrebs denken. Im Rollstuhl, mit einer Sauerstoffmaske vor dem Gesicht, schwadroniert er mit seligen Augen über den Genuss und die Rituale des Rauchens. Das Ganze aber nicht als moralisierende Anti-Werbung gleich Ekelbildern auf der Kippenschachtel, sondern als Teilaspekt des dargestellten Phänomens. Trotz seiner Schonungslosigkeit ist Wawerzinek kein Abstinenzprediger, er ist aber auch kein Verherrlicher der Sucht. Er ist schlicht, mit seinem runden von Lebensmarken und geplatzten Kapillargefäßen gezeichneten Gesicht, aus dem zwei kleine, unglaublich wache Augen herausschauen – Vorsicht, großes Wort: wahrhaftig.
(Zumindest war das mein Eindruck am letzten Mittwoch.)
Was gibt es noch zu sagen…?
Am Schluss der Veranstaltung, wie immer beim Literarische Salon, bot sich die Möglichkeit mit dem Autor zu diskutieren. Besonders viel kam aber, auf Grund einer, sagen wir, geringen Fragefreudigkeit des Publikums, nicht herum.
Wawerzinek ging schließlich doch noch auf seinen neu erschienen Roman ein: Ich Dylan Ich (Verlag Wortreich), eine Auseinandersetzung mit Dylan Thomas, der sich bekanntermaßen tot gesoffen hat, womit wir wieder beim Thema wären.
Mit diesem Roman werde ich mich noch befassen.