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#weiterschreiben100 – Fiktion

Berlin, 05.04.2020

Autor: Martin Kamp

Corona in Emmelsbüren

Eleonore stutzte. Jochen kniete auf dem Boden des Warenhauses, direkt vor der Kaffeebar, und friemelte an einer rot-weiß-gestreiften Kleberolle herum. „Was machst du denn da?“, fragte sie. „Komm, lass uns gehen, wir müssen dicht machen.“

Jochen war klar, wie sehr Eleonore das frustrieren musste: Vor acht Wochen hatten sie das Warenhaus neu eröffnet, nun war behördlicherseits die einstweilige Schließung angeordnet worden. Da hatten sie es gerade noch einmal abwenden können, die Hutmacher Warenhaus GmbH liquidieren zu müssen. Und nun machte ihnen das Virus zu schaffen.

Mit einem festen Ruck riss Jochen ein Stück von der Kleberolle ab und klebte es auf den Boden.

„Bist du blöd? Jetzt ruinierst du uns auch noch das teure Parkett!“

„Liebes. Ich versehe den Boden lediglich mit Markierungen für den notwendigen Abstand. 1,5 Meter.“ Von der Tür des Warenhauses waren es exakt 332 Zentimeter bis zur Kaffeetheke, das hatte Jochen längst ausgemessen. Immerhin konnten so drei Kunden Einlass finden, wenn einer bis zur Theke vorging und einer direkt an der Tür wartete.

Eleonores Blick verriet, dass sie nicht begriff. Alle Geschäfte mussten schließen, außer Supermärkte. Der Verkauf von Büstenhaltern und Geodreiecken galt nicht als systemrelevant. Und außer Textilien, Wäsche und Schreibwaren hatte sie in dem Warenhaus kaum etwas im Angebot.

„Die Kaffeebar! Wir dürfen außer Haus verkaufen“, sagte Jochen.

„Togo ist erlaubt?“

„Togo?“ Jochen verstand nicht.

„Schatz. Tuuu goah … Den Begriff habe ich dir doch schon einmal erklärt. Aber das ist ja großartig. So kommt wenigstens etwas Geld herein.

„Ach, richtig.“ Jedenfalls sah er in diesem Togo jetzt die Chance. „Übrigens kann man das Klebeband rückstandslos wieder lösen“, beruhigte er sie.

Nachdem er den Boden mit den Markierungen versehen hatte, spannte er eine Kordel, die den Kaffeebereich von der anderen Verkaufsfläche trennte. Eleonore beobachtete ihn dabei.

„Und was soll das?

Er verstand die Frage nicht. Selbstverständlich waren die Kunden der Kaffeebar nicht befugt, die direkt benachbarte Abteilung für Damenoberbekleidung zu betreten. „Eleonore, die Behörden würden es uns gewiss zur Auflage machen.“

„Aber wenn nun unbedingt eine Kundin außer ihrem Chai-latte eine Strumpfhose kaufen will, werden wir nicht nein sagen.“

Jochen merkte, wie sein Blutdruck stieg, sein Herz pochte. Seit vier Monaten waren Eleonore und er ein Paar – sie bezeichnete ihn anderen gegenüber gern als ihren „Lover“, er sprach gemeinhin von seiner Verlobten – und gestritten hatten sie sich bisher kaum. „Eleonore, natürlich müssen wir nein sagen. Auch wenn es mir für die betreffende Dame leidtun wird, wenn sie weiter ihre Strumpfhose mit Lauflasche tragen muss.“

„Lauf-Masche“, sagte sie. 

„Laufmasche. Aber die Dame sollte ohnehin nicht so viel außer Haus herumlaufen.“

„Mir würde es eher leidtun, wenn uns die Einnahmen fehlen.“

Jochen schüttelte den Kopf. Längst hatte er sich mit den von der Kreditanstalt für Wiederaufbau, der Landesbank Nordrhein-Westfalen und dem örtlichen Wirtschaftsförderungsamt in Aussicht gestellten Mitteln beschäftigt. „Wir können öffentliche Unterstützung bekommen.“ Er kramte in ein paar Papieren und fischte drei Din-A-4-Blätter daraus hervor. Er erklärte, das seien die Anträge, er habe sie bereits ausgefüllt – Eleonore müsse nur noch unterschreiben.

„Das ist ja super, Schatz, her damit. Oder kann man das auch online einreichen?“

Gewiss war das möglich, aber Jochen hatte sich gegen die virtuelle Antragstellung entschieden. Sosehr er sich inzwischen mit diesem Internet angefreundet hatte – in Finanzsachen war er weiter vorsichtig. „Ich werfe die Briefe übermorgen noch bei der Volksbank und beim Rathaus ein. Von dort aus werden sie weitergeleitet.“

„Wieso übermorgen?“

„Nun, die Formulare erscheinen mir ein wenig zu simpel. Die Behörden sprechen zwar von unbürokratischer Hilfe. Trotzdem muss alles seine Richtigkeit haben. Ich dachte, ich sollte morgen noch ein Dokument mit ergänzenden Angaben zur wirtschaftlichen Situation des Warenhauses erstellen, das wir den Formblättern beigeben können.“

„Du willst was?“ Eleonore schaute mit großen Augen auf Jochen herab, der inzwischen wieder auf dem Boden kniete, um mit Wasserwaage und Zollstock zu prüfen, ob die aufgeklebten Markierungen tatsächlich 150 Zentimeter voneinander entfernt und komplett parallel zueinander angebracht waren.

„Nun, wenn die Ämter bei der Gestaltung der Formulare so nachlässig sind …“

„Jochen!“ Er hatte sie selten so laut erlebt, vor allem nicht ihm gegenüber. Sie klaubte die Formulare von der Theke, verließ das Warenhaus und knallte die Tür zu.

Jochen war ihr nicht böse. Sie war die Inhaberin des Warenhauses, und die in Aussicht gestellten 9.000 Euro Soforthilfe waren tatsächlich dazu geeignet, die schwierige Situation zu überbrücken. Er hoffte ja selbst darauf. Aber er war es sich und seinen Ansprüchen schuldig gewesen, zumindest anheimzustellen, die unterkomplexen Formulare zu ergänzen.

Wenige Minute später kam sie zurück. „So die Briefe sind weg. Es tut mir leid, Jochen. Aber wir brauchen die Kohle. Ich habe Angst …““

Er umarmte sie. „Ist schon gut. Ich denke nur, alles müsste …“

„ … seine Richtigkeit haben“, vervollständigte sie den Satz und küsste ihn.

***

Eleonore werkelte an der elektronischen Kaffeemühle, der Gastro-Espressomaschine und dem Milchaufschäumer – Geräte, die sie für die Kaffeebar angeschafft hatten, während Jochen Schilder anfertigte („Kaffee to-go“; „Abstand halten!“). „Scheiße, wir können gar nichts verkaufen, weil wir diese verfluchten Maschinen nicht kennen! Vivienne!“

In der Tat: Die Kaffeebar war der Bereich von Vivienne, Eleonores siebzehnjähriger Tochter, die eine zehntägige Barista-Fortbildung absolviert hatte. Sie hatte sich vor einigen Tagen auf den Dachboden zurückgezogen, ließ sich das Essen auf die Treppe stellen und benutzte nur noch das alte Gästeklo im Obergeschoss mit dem kleinen Waschbecken.

„Warum kommt sie denn nicht von oben runter?“, fragte Jochen.

„Sie hat sich in freiwillige Quarantäne begeben. Sie vermutet, sie sei infiziert und will sonst niemand gefährden …“

„Infiziert? Warum?“, fragte er.

„Österreich. Sie war zwar nicht in Ischgl, aber sie befürchtet, ihr hoher Konsum von Almdudler und steirischen Kürbiskernen mache sie zur gefährdeten Person …“

Jochen hatte sich ausgiebig mit den möglichen Übertragungswegen von Covid-19 beschäftigt und neigte gewiss zur Vorsicht. Aber in diesem Fall konnte man Entwarnung geben. „Du kannst ihr mitteilen, dass sie runterkommen kann.“

Eleonore nahm ihr Smartphone. Sie leitete einen Videoanruf ein. Für Jochen war Videotelefonie äußerst aufregend; Eleonore hatte ihn erst kürzlich damit in Berührung gemacht. Als Kind hatte er sich oft ausgemalt, wie es wohl sein würde, selbst „im Fernsehen“ zu sein. Und nun war es so einfach möglich, gefilmt zu werden.

Vivienne nahm den Anruf entgegen. Auf Eleonores Smartphone war sie kaum zu erkennen. Sie trug einen Schal um den Mund, eine Taucherbrille über den Augen und auf dem Kopf etwas, das an eine aufblasbare Trockenhaube erinnerte.

„Hi, meine Süße. Wie geht’s dir da oben?“, fragte Eleonore.

„Ha—mmmr ghhts schlcht …

„Man versteht dich nicht. Nimm doch mal deinen Schal ab“, bat Eleonore sie.

Vivienne schüttelte den Kopf. Sie wackelte mit dem Smartphone. Kurz erkannte Jochen, dass sie einen pinkfarbenen Schneeanzug trug.

„Bitte, nur kurz.“

Vivienne zog den Schal aus dem Gesicht und setzte die Taucherbrille ab. Damit war der Blick auf ihre verweinten Augen freigegeben.

„Du musst keine Angst haben. Nicht wegen der Kräuterlimo und den Kürbiskernen. Da kann das Virus nicht drin gewesen sein“, beruhigte Eleonore sie.

„Aber wenn ich doch noch angesteckt werde? Ich will nicht sterben. Ich bleib hier oben, bis es einen Impfstoff gibt!“

„Ich wusste gar nicht, dass da auf dem Dachboden noch so viel Krempel steckt!“, sagte Eleonore und lachte. „Du musst in diesem Anzug doch schwitzen wie Sau!“

„Nimm mich bitte ernst, Mum! Nimm das alles bitte ernst!“

Jochen trat einen Schritt zur Seite, weil er Viviennes hilflos-hysterischen Anblick nicht ertrug.

„Das machen wir Süße. Aber du musst uns zumindest beibringen, wie man den Kaffee zubereitet. Ich halte die Kamera mal auf die Maschine, und dann erklärst du sie uns …“, sagte Eleonore.

***

Als sie sich mit den Kaffeebar-Gerätschaften vertraut gemacht und Vivienne nebenbei ein wenig beruhigt hatten, betrat Frau Glauger, die Witwe des vor drei Wochen freiwillig aus dem Leben geschiedenen Zahnarztes Dr. Glauger, das Warenhaus – gemeinsam mit ihrem Rauhaardackel Egon. Frau Glauger und Egon trugen identischen mint-grünen Mundschutz.

„Frau Glauger, wir dürfen nicht verkaufen. Außerdem ist es schon nach 21 Uhr“, sagte Eleonore.

Sie zog einen weiteren Mundschutz aus der Seitentasche ihres Lodenmantels und tupfte sich damit die Tränen aus ihren Augen. Die Maske in ihrem Gesicht schob sie auf ihr Kinn. „Ich sah noch Licht“, schluchzte sie. „Und ich will auch nichts kaufen.“

„Sondern?“

„Etwas verkaufen“, sagte die Witwe. Sie griff mit ihren schwarz behandschuhten Händen in ihre Einkaufstasche. Anschließend schritt sie auf Eleonore und Jochen zu.

„Stopp! Stopp!“, rief Jochen.

„Stopp was?“, fragte Frau Glauger.

„Abstand halten! Entschuldigen Sie, wenn ich so direkt bin“, sagte Jochen. Er knickte den Zollstock auf 1,60 Meter auseinander und hielt ihn waagegerecht zwischen Eleonore und sich, einerseits, und Frau Glauger, andererseits.

Frau Glauger tupfte erneut ihre Augen.

„Ist der Mundschutz als Ersatz für Tempo-Taschentücher nicht etwas zu schade?“, zischte Eleonore sie an.

„Ist ja schon gut“, sagte Frau Glauger, während Egon den Zollstock anbellte, wobei das Bellen durch seinen Mundschutz etwas dumpf klang. Zur Freude von Jochen, der das schrille Keifen des Dackels sonst kaum ertrug.

Frau Glauger fasste abermals in ihre Tasche und holte nunmehr einen Stapel Mundschutz-Masken – in der Art, wie sie und Egon sie trugen – hervor und hielt sie wie Trophäen in die Höhe.

„Wo haben Sie die denn her?“, fragte Eleonore.

„Aus der Erbmasse meines verschiedenen Gatten seligen Angedenkens. Diese hier und noch gut 2.100 weitere, insgesamt 2.137. Seit der Praxis-Auflösung lagern sie gut verpackt bei uns im Keller.“

„Zeigen Sie her!“

Frau Glauger schickte sich an, auf Eleonore zuzugehen, doch Jochen stoppte sie. „Stehen bleiben!“, rief er, während er den sich zunehmend nach unten biegenden Zollstock balancierte.

„Mein Gott, wie bei einem Überfall. Also gut.“ Frau Glauger warf den Stapel Mundschutz-Masken in Richtung von Eleonore und Jochen. Die Masken regneten auf sie nieder.

„Sie sollten sie dem Seniorenheim oder dem Krankenhaus spenden“, schlug Jochen vor.

„Spenden? Nichts da. Ich verkaufe sie Ihnen. Und Sie verkaufen Sie weiter. So verdienen wir beide daran.“

Jochen schaute Eleonore an. Ihr Blinzeln vermochte er nicht zu deuten.

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