03.04. 2020
Autorin: Gabi Helbig
Allein sein heißt nicht einsam sein.
Das sagte Dorothea sich jedesmal, wenn sie an einem Spiegel vorbei ging.
In ihrer großen Altbauwohnung gab es viele Spiegel, und sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich immer darin anzulächeln.
Dorothea war 92 Jahre alt und schaute zur Zeit den ganzen Tag Phönix im Fernsehen. Sie stand auf direkter Information aus erster Quelle.
Sie war stolz darauf, bestens informiert zu sein.
Auch über Corona. Wenn jemand gefährdet war, dann sie. Ihre Kinder, die sie mit Einkäufen versorgten, waren mit einem Infizierten zusammen und nun in Quarantäne. Das sah ihnen ähnlich, immer forsch und unvernünftig.
Dorothea würde auch ohne Nachschub leben, bis die beiden wieder einsatzfähig wären.
Sonst gab es niemanden, an den sie sich wenden wollte. Die neuen Nachbarn waren laut und rücksichtslos, lebten auch erst zwischen zwei und zwanzig Jahren im Haus. Unerzogene junge Leute.
Es klingelte an der Tür.
Dorothea brauchte etliche Minuten aus der Küche bis zur Eingangstür. Sie sah niemanden durch den Spion, ahnte ein Paket auf der Fußmatte. Sie öffnete und fand ein Tablett mit Torte und einem Thermobecher Kaffee.
Auf der beiliegenden Blumenkarte stand: „Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie bitte Bescheid. Wir kaufen gern für Sie mit ein. Ihre Nachbarin Doris.“