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#weiterschreiben100 – Fiktion

Berlin, 25. März 2020

Autorin: Kathrin Welke

Rappeln

Man hat mich auf mich selbst zurück geworfen. Da liege ich nun auf mir drauf wie eine plumpe Barbiepuppe und starre an die Decke. Völlig bewegungslos. Ich kann kaum atmen. Meine Haare kitzeln mein Gesicht. Meine Wangen berühren sich. Ich rieche irgendwie komisch. Einfach so hingeworfen mitten ins Wohnzimmer, ausgeknockt zwischen Sofa und Bücherregal. Verquer auf dem bunten Kelim, der schon viele Jahre bei mir ist. Ich bin mir unbequem, erdrücke mich, bin viel zu schwer für mich, aber ich weiß nicht, wie ich mich loswerden soll, jetzt in dieser besonderen Zeit. Normalerweise gelingt es mir ganz gut, vor mir zu flüchten. Ich gehe ins Kino, treffe Freunde oder arbeite zu viel. Das geht jetzt nicht.

Zu tun gäbe es trotzdem eine ganze Menge. Die Schränke haben Angst zu platzen und warten sehnsüchtig darauf, von dem Zuviel befreit zu werden. Ich könnte mich zu einer anderen machen: sportlich, fit und dann auch noch gesund ernährt. Die Papiere auf dem großen Haufen in kleine Haufen zu sortieren und dann sogar in Ordner zu heften, wäre theoretisch auch möglich. Freunde in Amerika würden sich vielleicht über eine E-Mail von mir freuen oder zumindest so tun. Im Netz sind so viele Serien und Filme, die ich immer schon mal schauen wollte. Im Netz sind so viele Entspannungsübungen, die ich immer schon mal machen wollte. Ruhe. Zeit für mich. Viel Zeit für mich. Ein ganzer Ozean voller Zeit. Dunkelgrün und unheimlich tief. Kein Land in Sicht. Ideal um darin zu ertrinken.

„Sie brauchen heute nicht zu der Konferenz zu kommen. Sie können zuhause bleiben.“

Vor genau zwei Wochen, morgens um halb sechs, habe ich mich noch nach so einem Satz gesehnt. Raus aus dem Hamsterrad. Einfach nicht erscheinen. Urlaub vom Wichtigsein. Ferien vom ewigen weiter, höher, mehr. Vom: das schaffen wir auch noch. Irgendwie. Und dann am Telefon vor einer Woche tatsächlich der Satz. Die Stimme der Sekretärin klang merkwürdig schrill. Die Worte schossen zunächst durch das rechte Ohr in meinen Kopf, stellten sich dort in einer unsinnigen Reihe auf und verharrten einen Moment, wie vor einer Mauer.

„Sie waren doch in einem Risikogebiet.“ Es klang vorwurfsvoll. Sie verstand nicht, warum ich nicht verstand. Einzelne Worte sprangen über die Mauer, andere nicht.

„Ich war in Barcelona, nicht in Madrid.“ Das klang so schwach und hilflos. Auf verlorenem Posten, fiel mir ein und ich sah einen müden Soldaten auf irgendeiner Anhöhe stehen.

„Sie waren in Spanien! Dort haben sie jetzt den Notstand ausgerufen!“ Nun war sie tatsächlich ungeduldig, vielleicht sogar ein bisschen wütend, weil sie dachte, ich würde darauf bestehen, sie anzustecken.

„Aber doch nur, weil die Frau des Ministerpräsidenten erkrankt ist.“ Wen versuchte ich hier von was zu überzeugen? Sie war doch nur die Überbringerin der Nachricht. Und warum sollte es denn eine schlechte Nachricht sein? Zuhause bleiben.

„Aber ich bleibe natürlich Zuhause, wenn das so erwünscht ist.“

Als ich das Telefon zurück in die Station stellte, kamen mir tatsächlich die Tränen. Ich war enttäuscht, fühlte mich ausgeschlossen. Was für eine komische Reaktion. Aber das Gefühl breitete sich in mir aus wie rote Tinte. Warum konnte ich nicht zumindest mit bauen am Notfallkonstrukt? Ich war doch nicht krank. Noch nicht? Offensichtlich hatten die Kollegen Angst, sich bei mir anzustecken. Ich bedeutete ein Risiko für sie. Niemand wollte mir zu nah kommen. Hatte ich Angst? Nein. Höchstens davor, dass ich jetzt beginnen würde mich selbst bohrend genau zu beobachten, ob es im Hals zu kratzen begänne, ob meine Stirn sich warm anfühlte, ob ich besonders müde sei. Ja, ich bin müde. Es ist so viel passiert im letzten Jahr: Scheidung, Umzug, neuer Job.

Da ist eine Spinnwebe an der Zimmerdecke. In der Ecke. Hoch oben, am Stuck. Die Spinne ist nirgendwo zu sehen. Zum Glück. Sonst würde sie sich jetzt vielleicht zu mir herunter lassen und auf mir herumkrabbeln. Oder sie würde Stück für Stück aus mir heraus beißen. Trägt sie genügend Fäden in sich, um mich völlig einzuspinnen – mich und mich, wie in einen Kokon? Dann hätte der Virus keine Chance mehr, weder hinein noch hinaus zu gelangen. Und würde ich eine andere sein, wenn ich dann nach Monaten, mit oder ohne Virus, irgendwann wieder schlüpfte? Vielleicht mit bunten Flügeln und einer gehörigen Portion Lebenslust?

Wäre es jetzt Sommer könnte die Spinne Fliegen und Mücken fressen. Aber das Frühjahr hat noch nicht einmal begonnen. Sie muss Hunger haben. Vielleicht konnte sie sich auch im Winter, der keiner war, satt fressen. Weder Schnee, noch Eis und die Kälte kommt jetzt erst, aber über den Klimawandel möchte ich im Moment nicht nachdenken. Eine Katastrophe zurzeit. Mehr geht nicht. Was machen die Tauben auf den Plätzen? Genießen sie die Menschenleere oder sehnen sie sich nach ein unserem Restmüll? Übernehmen jetzt die Wildschweine endgültig die Städte? Und treffen sich die einsamen Wölfe auf den Restaurantterrassen? Sie haben ja keine Kontaktsperre.

Es kitzelt komisch in meiner Nase. Tröpfcheninfektion. Als ich niese, wackelt mein Bauch und ich falle fast von mir herunter. Schnell ziehe ich mich wieder hinauf und genieße für einen Moment dann doch die Schwere und Wärme meines Körpers. Müsste ich mir nicht Sorgen machen um mich? Heute Morgen bin ich viel zu früh aufgewacht und dachte an dunkles, langsam fließendes Blut. Ob es anders schmeckt, wenn der Virus schon mitfließt? Oder hält der sich tatsächlich nur in den Schleimhäuten auf? Die Traumgestalten, der Exmann und seine neue Freundin, haben sich schnell verzogen, nur das Gefühl, nirgendwo mehr zuzugehören, ist geblieben.

Aufrappeln ist ein schöner Ausdruck. Sich aufrappeln. Ich möchte mich gerne rappeln, aufrappeln, aber da bewegt sich nichts. Da rappelt nichts. Es ist so still draußen. Und wenn ich in mich hineinhorche auch. Stillstand. Ausgebremst. Oder gegen die Wand gefahren?

Die Abende gleichen den Morgenden und auch die Zeit dazwischen ist sich so ähnlich, dass ich begonnen habe die Tageszeiten zu verwechseln. Wann ergeht es mir wie dem Mann, der seine Frau mit dem Hut verwechselt hat? Aber hier gibt es weder einen Mann noch einen Hut, nur den kaputten Strohhut vom letzten Sommer. Immer kann alles passieren und nichts. Ich darf gespannt sein oder ganz gleichgültig. Es ist allen egal, wenn ich erst morgens ins Bett gehe und dafür mittags meine Zähne putze und um 17 Uhr plötzlich unvermittelt den Schlafanzug gegen Hose und Pullover tausche und doch nicht zu einem Spaziergang aufbreche. Ist es mir auch egal? Aber woran soll ich mich festhalten, wenn ich alles loslasse? Ich kann mir einbilden, dass die Sonne vor dem Fenster schon frühlingswarm ist oder es nie wieder Sommer wird. Ich kann mir einbilden, dass ich sterbe oder überlebe. Und ich kann den kaputten Sommerstrohhut aufsetzen.

Verabredungen dürfen nicht mehr getroffen werden, höchstens online und die sind so real wie die Filme auf Netflix. Vielleicht werden die Protagonisten bald meine Freunde. Nichts ist mehr so ganz wirklich, alles nur noch virtuell. Es gibt keine Berührungen mehr, nur noch Abstand. Es gibt keine Nähe mehr, nur noch Distanz. Ist mein Körper das Risiko oder sind es die anderen Körper? Vielleicht brauchen wir keine Körper mehr. Die machen nur Probleme, werden krank, stecken an.

Die Struktur hat sich aufgelöst. Will sie von mir neu geschaffen werden? Wartet sie schon ungeduldig darauf? Und wenn ich nicht will? Noch weiß ich doch nicht einmal, ob ich sie vermisse oder mich diebisch freue, dass sie sich endlich aufgelöst hat. Denn mit der Struktur ist doch auch endlich der Druck weg. Ob es wohl mehr Menschen gibt, die sich jetzt schnell eine neue Struktur schaffen oder mehr, die es genießen in den Tag hinein zu leben? Hinein leben in den Tag. Kann man auch heraus leben aus dem Tag? Oder solche, die sich zumindest aufrappeln. Immer noch ein schönes Wort. Rappeln. Ich möchte mich ja wirklich auch gerne rappeln. Es hört sich so fröhlich an. Aber wozu aufrappeln? Ziele und Pläne sind noch sinnloser geworden als eh und je. Nur Wünsche und Träume könnten gerade noch so gelingen, auch Alpträume. Also nur noch träumen und wünschen? Wäre es nicht besser jetzt zu tun und zu wirken, vielleicht zu helfen und zu heilen?

Italiener singen auf ihren Balkonen, Spanier klatschen für die Ärzte und Schwestern, #nebenan helfen sich Nachbarn in Deutschland. Da wächst etwas zusammen, was Abstand halten soll. Das sind die guten Nachrichten. An meine Ohren dringen auch die anderen. Mit den Augen sehe ich die Bilder, aber ich habe schon gelernt, Abstand zu halten. Da ist diese Mauer, die verhindert, dass sie tatsächlich in mich eindringen können, mich wirklich berühren. Ich höre nicht mehr, was ich höre, ich sehe nicht mehr, was ich sehe. Ich bin nur noch.

Aber, wenn ich mir keine Sorgen um mich mache, tut es niemand. Also sollte ich mir vermutlich mal so richtig Sorgen um mich machen. Gehöre ich zur Risikogruppe oder noch nicht? Über fünfzig, aber noch nicht sechzig. Eigentlich nicht. Also, das war’s? Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Und es hat auch niemand etwas davon, sich Sorgen zu machen. „Es hat in meinem Leben viele Katastrophen gegeben, manche sind tatsächlich passiert“. Mark Twain hat das einmal gesagt. Er hat das auch mit dem Rauchen gesagt. Dass es einfach ist aufzuhören, weil er es jeden Tag tut. Vielleicht gehöre ich ja doch zur Risikogruppe, weil ich ja mal geraucht habe und es auf Partys oder sonstigen Gelegenheiten noch immer tue.

Fest steht: Ich bin mir einfach zu schwer. Ich muss mich irgendwie von mir befreien. Vielleicht könnte ich mich in der Zimmerecke abstellen und dann all die schönen Sachen tun: durch die Wohnung tanzen zu völlig veralteter Diskomusik, krumme, köstlich klebrige Cup-Cakes mit Zitronengeschmack backen oder ganz laut schreien und in die Luft boxen, obwohl es keinen Grund gibt. Ich dürfte mir ja dabei zuschauen. Aber keine Kommentare abgeben! Nein, auf keinen Fall Kommentare. Wie befreit man sich von sich selbst, wenn man ganz allein ist mit sich? Wenn einem niemand helfen kann? Vielleicht sollte ich mal mit mir reden. Ich müsste doch ein Einsehen haben, dass das hier so mit dem auf dem Boden Rumliegen nicht weiter geht.

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