New York, 30.04.2020
Autorin: Dagmar Spain
Zurück zur Normalität und dann … ?
In sechszehn Stunden hatte ich mich entschlossen. In einer Sekunde, als einer der letzten Flüge nach Amerika abhob, hatte sich mein Leben komplett verändert.
Stunden können wir zählen, Sekunden nur fühlen. Es soll nur ein kurzer Besuch werden, und doch weiß ich, dass meine Rückkehr ungewiss ist.
Im Rollstuhl komme ich in Newark an. Ich will dich auf keinem Falle der Gefahr aussetzen, angesteckt zu werden. Ich könnte mir nie vorstellen, das zu tun, und doch ist es mein Versprechen an dich.
Unser letzter Besuch im Restaurant, am hintersten Tisch, von dem wir so wunderbar auf die Bay schauen können. Die Schwäne gleiten an uns vorbei, als ob es nichts gibt, dass den Fluss der Dinge jemals verhindert. Unsere Normalität. Das, was wir im Moment sehen, tun, fühlen und anfassen.
Ich fühle mich glücklich. Wir dürfen einfach zusammen zu sein. Die Außenwelt ist abgeschnitten, und ich empfinde es als Geschenk. Ich darf mich dem Morgen widmen, den Vögeln, die auch weiterhin zwitschern, als ob ihre Welt noch lebendiger geworden wäre.
Keine Flugzeugstreifen, die den wolkenlosen Himmel durchkreuzen. Die Luft ist klarer, reiner, erholter. Ich nehme einen unbekannten Atem auf. Er hat etwas Jungfräuliches. Er schmeckt wie prickelndes Zitronenwasser.
Todesnachrichten. Jeden Tag. Dunkle Wolken, die Schatten auf unser Haus werfen. Sind die Mauern dick genug, um sie im Inneren nicht wahrzunehmen? Können unsere Mauern einstürzen? Ich bete für Schutz. Ich bete für Veränderung.
Ich huste am Abend. Kann es sein, dass …? Ich schaue dich an. Nein, mache dir keine Sorgen. Wirklich, keine? Wir sind doch vorsichtig! Kann es doch sein? Meine Angst, dich anzustecken, unterdrückt meinen nächsten Hustenreiz. Ich schlucke ihn hinunter, und lache nur.
Menschen um uns erkranken. Nein, ich habe ihn nicht angefasst! Du? Ich empfinde die Distanz als angenehm. Wie oft fühle ich mich eingenommen. Es ist stiller geworden. Die sonst laute Musik um uns verstummt. Sind sie krank? Leben sie noch?
Ich säe Blumensamen. Jeden Morgen renne ich in den Garten, um zu sehen, ob die dunkle Erde mit den ersten Sprösslingen durchbrochen ist. Auch die kleinste Veränderung birgt Hoffnung. Ich brauche diese absolute Gewissheit, dass Neues gedeihen darf.
Der ersehnte Anruf. Ja, mir geht es besser. Ich war zehn Tage im Krankenhaus. Danke für eure Anteilnahme. Unser Nachbar, den wir seit zwei Wochen nicht mehr gesehen haben, ist wohlauf. Erleichterung! Wir bestellen ihm Vitamin C.
Ich kann unter der Maske nicht atmen. Im Park unter der dicken Eiche setzte ich mich auf ihre Wurzeln. Vehement streife ich die Maske ab. Meine Poren wollen den Frühling hautnah erleben, und nicht durch eine Membran. Alles steht im Blühen. Die Natur braucht keinen Impfstoff. Sie ist schon immun.
Stunden, Tage, Wochen vergehen. Ich verliere den Sinn für Zeit. Sie rinnt mir durch die Finger. In der Klarheit ihrer Einzelheiten, steht sie still. Ich komme zur Ruhe, die unerhört drängt. Ich flüstere ihr beschwichtigende Worte zu.
Wir kaufen viel. Das Essen muss lange reichen. Wir kaufen auch Dosen, im Falle, dass … Nein, nicht öfters einkaufen als nötig. Ich winde mich um die anderen Kunden. Wer wird den anderen vorlassen? Manche scheinen von einer Pandemie nichts zu wissen. Oder müssen sie an ihren alten Gewohnheiten festhalten, um nicht alles zu verlieren?
Ich schreibe, mehr oder auch oft weniger. Bin überrascht über meinen eigenen Stillstand. Worte können nicht so einfach erscheinen, wie die Katze des Nachbarn auf unserer Veranda. Neue, ungewohnte Umstände brauchen neue Wörter und neue Wörter brauchen ihre Zeit.
Sechzehn Stunden lang rang ich mit mir. Seit sechszehn Abschnitten bin ich bei dir. Zurück zur Normalität möchte ich nicht. Ich möchte die Zeit der Pandemie dadurch honorieren, mich auf Neues einzulassen. Die Normalität vorher ist nicht die Vorstellung einer Norm für meine Zukunft.
Dagmar Spain wurde in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren und lebt nach einem 25-jährigen Auslandsaufenthalt in New York und Prag wieder in Deutschland. Sie ist eine internationale anerkannte Bühnendarstellerin im Bereich von Tanz, Choreographie und Schauspiel und schreibt seit mehr als zehn Jahren Monologe, Theaterstücke, Gedichte und Kurzgeschichten. Sie unterrichtet Frauenmonologe im Bereich Literatur in Comtemporary Society an der Universität von New York in Prag (UNYP) und leitet internationale Workshops in Sprache und Bewegung. „Die erste Geige”, ihr Debütroman, hat sie mit der Leichtigkeit einer Tänzerin und der Ernsthaftigkeit einer Literatin geschrieben. Im Schreibhain hat sie ihre Stoffidee zum Roman entwickelt. Im Herbst 2020 wird sie ihr Doktorstudium in Tanzpädagogik an der Columbia Universität in New York beginnen.