Weimar, 13. April 2020
Autorin: Christina Müller
Coronazeittagebuch 12. 4. 2020: Versuch, etwas zu verstehen oder wenigstens zu beschreiben
Um diese Krise, die sich so komplex gibt, aber es möglicherweise gar nicht ist, in meinem Kopf klarzubekommen, verwende ich meine Schubladentechnik. Die wird zwar von meinen Kindern mit Kopfschütteln, Augenleiern und offenem Protest aufgenommen, aber das Schütteln, Leiern und Protestieren müssen die ohnehin üben.
Also. Die Schubladen.
Da wären zum ersten die Entschleuniger und Innehalter. Entschleunigt und haltet inne! rufen sie, und: Nutzt die Zeit, um Wichtiges zu tun! Ruht und geht in euch! Endlich müsst ihr nicht mehr ständig herumrennen und beschäftigt tun! Noch besser: Ihr dürft es nicht mehr! Ihr müsst es noch nicht einmal selbst beschließen! Ihr werdet zum Entschleunigen verdonnert!
Eine mit mir vernetzte entschleunigte Person schickt täglich viele Fotos, Videos und Sprüche in soziale Netzwerke, die illustrieren, wie sie entschleunigt und innehält.
Zum zweiten: die Veränderer. Sie finden in dieser Krise eine Menge von üblen Gewohnheiten, Gegebenheiten und Gefügen, die ins Wanken geraten sind. Die Weltordnung; das unvertretbare Gegeneinander von Arm und Reich; die Idee des wirtschaftlichen Wachstums als Grundlage der Gesellschaft. Wenn man das jetzt ändern könnte! Jetzt, wo es wackelt, wie ein völlig schiefes, hässliches Gebäude aus Bauklötzern! Man könnte ein neues, herrliches Haus daraus bauen! Nur welchen Baustein nehmen wir heraus? Und was passiert dann?
Dann gibt es die Hamsterer. Diese Gruppe ist eine virtuelle Größe, denn es gibt sie nicht. Niemand hamstert. Ich will nicht das Kl-Wort verwenden, es ist schon so oft verwendet worden. Aber ich will hier nur zu bedenken geben: Wenn man all das weiße Mehl isst, was man eingekauft hat, braucht man auch kein Kl. mehr.
Zum vierten gibt es die Systemrelevanten. Einige davon wissen davon erst seit kurzer Zeit, und sie sitzen mit einem neuen Selbstbewusstsein hinter ihren Scheiben und könnten über Systemrelevanz nachdenken, wenn sie Zeit dafür hätten.
Ah, ja, fünftens, die Meckerer. Sie haben schon lange gewusst, was los ist. Man hat es ja kommen sehen, als es in China losging. Aber natürlich haben die Regierungen nichts gemacht. Die Chinesen. Die WHO. Die Flüchtlinge. Die bringen uns das Virus herein. Die eigene Regierung. Eine starke Regierung hätte all dem Einhalt geboten, als es noch möglich war. Jetzt ist es zu spät. Und sie, die Meckerer, müssen es wieder ausbaden.
Eine erstarkende Gruppe ist, sechstens, die der religiösen Eiferer. Sie haben die Wackligkeit der Situation erkannt und sich auf den virtuellen Weg begeben, um Menschen für ihren Glauben zu gewinnen. An einem einzigen Tag habe ich von verschiedenen Seiten dringliche Aufforderungen erhalten, endlich die WAHRHEIT zu erkennen. Je nach Toleranzgrad des jeweiligen Religionsgebildes winkt man mir mit Erlösung oder droht mit Verdammnis, manchmal auch beides.
Und dann sind da, siebtens, die Mündigen Kritischen Bürger. Sie trauen den großen Medien nicht, denn alles, was groß ist, unterliegt Einflüssen von denen, die es groß gemacht haben. Sie suchen sich Informationen in anderen Quellen, die sie alternativ nennen. Diese Quellen bieten Bedenkenswertes bis Hanebüchenes. Die MKBs nutzen ihre Intelligenz und ihr Vorwissen, um Bedenkenswertes von Hanebüchenem zu unterscheiden. Intelligenz und Vorwissen sind sehr unterschiedlich, deshalb fällt auch die Unterscheidung sehr vielgestaltig aus.
Eine zahlenstarke Untergruppe der MKBs hat einen großen Drang zum virtuellen Teilen ihrer Gedanken, eine andere ist eher dem Zweifel zugeneigt.
Schlimm hat es, wie immer, die Armen getroffen. Flüchtlinge, Hilfsarbeiter, Wanderarbeiter. Alle, die nicht an Zukunft denken können, weil sie die Gegenwart erst einmal überleben müssen. Sie brauchen Hilfe, aber von wem? Na, von uns! Den Reichen! Aber wie?
Gibt es eigentlich jemanden, neuntens, der von dem Ganzen profitiert? Ja! Kontaktscheue in sozialen Berufen. Lehrer*innen kurz vorm Burnout. Internetserviceproviderinhaber! Onlinehandelbesitzer! Und: Spekulanten, die anderer Leute Unternehmen hin und her schieben, als wären es Häppchen eines blutigen Steaks auf einem Teller mit Designerfood.
Dann sind da noch die Schweden. Zehntens. Die sitzen draußen in der Sonne und essen ihre Bollars zusammen mit ihren Freunden, von denen sie auch nicht weiter weg rücken als sonst.
Und: Elftens. Die Covid-19-Erkrankten. Von denen hört und liest man sehr wenig (außer sie sind Prime Minister). Warum eigentlich?
Da eine direkte Kommunikation nicht mehr stattfinden kann, wird das Netz genutzt, um sich zu den genannten Gruppen zusammenzufinden. Dabei ist ein jeder zunächst Zielperson jeder Gruppe, was einen unglaublichen Überschwapp an Mitteilungen zur Folge hat.
Mich selbst würde ich zu den Veränderern rechnen, Untergruppe Möchtegernveränderer. (Wobei ich natürlich Tendenzen zu anderen Gruppen habe.) Ich würde mir gern den Baustein Schule herausnehmen und die Krise nutzen, um Barmherzigkeit für Schüler- und Lehrer*innen, kleinere Klassen und Lernen statt Stopfen einzuführen. Global würde ich gern die Anhäufung von Kapital verhindern, das Immermehr als Triebkraft der Gesellschaft abschaffen und eine Ökodiktatur einrichten.
Jetzt ist die Zeit! Los geht’s!
Hamsterer, MKBs, religiöse Eiferer, Systemrelevante, Entschleuniger und Innehalter, Covid-19-Erkrankte, Profitierer, Arme, Schweden, Meckerer aller Länder, vereinigt euch!