Ich erinnere mich an die feuchte Hitze, die in jenem Sommer in unserem Büro unter den Dachschrägen entlang gekrochen war und über den Nachmittag hinweg jeden versteckten Winkel für sich eingenommen hatte. In ganz Berlin waren Ventilatoren ausverkauft. Wir kamen gegen diese Temperaturen nicht an. Haltlos erlegen. Auf dem Laminat wucherten die Manuskripte zu Schlingpflanzen empor, keiner mochte sich in jenen Tagen mit dem Wildwuchs beschäftigen. Es gab Seen und gekühltes Bier. Am Maybachufer versammelten sich zufällige Picknickgesellschaften.
Auf der Dachterrasse den Sonnentergang sehen, zu zweit, Nora im Arm, das war mein Begehren. Eines der Manuskripte zu lesen, bloßer Zeitvertreib. Bis sie käme, wollte ich in Träumen brüten. Damit das keinem auffiel, schnappte ich mir den obenauf liegenden Umschlag, verabschiedete die Kollegen und marschierte Arbeit vortäuschend meiner Aussicht entgegen. Die Stadt pulsierte im Beat einer Gitarre, irgendwo sang eine Frau, ihre Stimme gekleidet in Schönheit, Schmerz und Sehnsucht. Was mehr konnte ich vom Leben erwarten? In solche Verfasstheit drang mein Gewissen, was sollte ich morgen den Kolleginnen erzählen? Den ersten Satz, den ersten Abschnitt, den konnte ich probieren. Vielleicht läsen sich die ersten Seiten ganz geschmeidig bei einem Schluck Weißwein? Da stand noch ein angebrochener Sauvignon Blanc im Gemeinschaftskühlschrank. War von der letzten Party übrig geblieben.
Wenn es einem Manuskript gelingt einer Literaturagentin, die mit dem Autor weder verwandt noch verschwägert ist, bei diesen Voraussetzungen mehr als drei Seiten abzuringen – wohlgemerkt in dieser Geschichte gibt es diese ungerichtete Sehnsucht, die zu allem und nichts führen kann und der Abend legte sich schon rötlich über den Himmel – dann weiß der Roman zu überzeugen. Anselm Nefts Hell ist dies an jenem späten Nachmittag, der schon Jahre zurück liegt, geglückt. Ich versank in seinen Manuskriptseiten und als ich Stunden später wieder von ihnen aufblickte, blinkten Sterne am Himmel und die Angebetete hatte Nachrichten geschickt. Von all dem hatte ich nichts mitbekommen. Seit diesem Tag bin ich eine bekennende Neft Leserin. Süchtig nach seinem Sprachklang. Süchtig auch nach den Leerstellen im Roman, die ihn mit erzeugen.
So sehr sich Hell und später Helden in Schnabelschuhen von Vom Licht auch unterscheiden, zweierlei eint sie: Es gibt Sätze, die haften sich an. Die schüttle ich nicht wieder ab. Im Traum verfolgen sie mich. Satzgespenster nenne ich sie.
Dieser Heidenspaß gelingt ihnen, weil Neft Themen aufgreift, die nicht auf der Straße liegen, über die wir Leser*innen aber dennoch stolpern. Es geht um nichts weniger als Wahrheitssuche. Seine Figuren machen sich auf den Weg, begehren zu wissen, erkunden Geheimnisse, beleuchten sie. Dabei sind sie Getriebene, umkreisen den Kern und ob sie am Ende verstehen oder nicht, ihr Leben schlägt Wellen. Vielleicht werden sie glücklich. Vielleicht tanzen sie auf einem Vulkan.
Als Anselm Neft am Messesonntag um 11 Uhr auf der Leseinsel der unabhängigen Verlage aus Vom Licht liest, setze ich mich neben Volker Surmann, seinen glücklichen Verleger. Er kennt und schätzt seinen Autor sehr und lächelt nur milde als dieser mit schlafwandlerischer Sicherheit genau eine jener Passagen liest, die sich am sperrigsten und auf den ersten Blick unverständlichsten im ganzen Buch erweist. Neft liest und gestikuliert mit einer Präzision, die mir die Sprache verschlägt, er übersetzt fehlendes Verständnis in Klang und gibt zu bedenken: „Verstehen wird überschätzt.“ Volker Surmann lächelt ein weiteres Mal dazu und ich begreife einmal mehr, was ich an Nefts Werk so sehr schätze: Hier spricht einer, der schreiben muss, weil er so sich selbst die Welt erzählt. Dass wir Leser mitkommen dürfen auf diese Spielwiese, dass wir Versuchsanordnungen durchdeklinieren oder darauf pfeifen können, weil wir Neft anders lesen, ist ein willkommenes Nebenprodukt.
Ich sehe den Autor vor mir, wie er stutzt. Viel zu pathetisch, denkt er. Auf der Strecke bleibt der Humor, der in meinem Werk mitgaloppiert und dazwischen rennt, wenn die Sätze sperrig werden und sich einfacher Kost verweigern. Recht hat er. Darauf einen tazpresso, der neben der Leseinsel zu ergattern ist.
Und wenn Sie sich jetzt fragen, worum um alles in der Welt, es in diesem Buch geht und weshalb ich ihnen genau dies vorenthalte, hier ein paar kurze dahingeworfene Fragmente, die keinesfalls mehr sein wollen. Fundamentalistisches Denken. Ausgeliefert sein. Befreiung. Gedankenüberschläge. Wohnen im Wort. Die Geschichte einer Entwicklung im und gegen den Wahnsinn.
Warum das bisschen ausreichen soll und sie dennoch zum Buch greifen müssen? Weil Vom Licht nicht vom Plot lebt, weil es sich auch dieser berechtigten Forderung entzieht. Weil es trotzdem gefangen nimmt und zerrt. Weil Sie all das nur verstehen, wenn Sie endlich selbst süchtig werden. Nur Mut!
Anselm Neft: Vom Licht. Satyr Verlag. Berlin, 2016.
http://satyr-verlag.de/?p=1170