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Schreibhain-Stipendium geht an
Jan Thul

Auch für den Jahrgang XXIII ist unsere Ausschreibung für das Schreibhain-Stipendium auf große Resonanz gestoßen. Wir freuen uns sehr darüber und bedanken uns bei allen Autor:innen für die Arbeit an den Texten, die sorgsame Auswahl und das Vertrauen in unsere Juryarbeit.

Das Schreibhain-Stipendium geht im Jahrgang XXIII an: JAN THUL für seinen Text „Rattenfänger„. Wir gratulieren von Herzen!

In der Jurybegründung heißt es: Thuls „Rattenfänger“ überzeugt mit einer klaren Sprache, eindringlicher Motivik und detailgenauen Beobachtungen. Gerade die Ambivalenz zwischen unzuverlässiger Erzählposition und konkret erinnerten Bildern erzeugt ein dichtes Spannungsfeld. Thul erzählt mit einer rauen Zärtlichkeit, die eine glaubwürdige, intime Atmosphäre schafft.

Hier lest ihr den Gewinnertext:

Rattenfänger

Mein Vater mochte Ratten nicht, weil sie ihm nämlich, während der Arbeit, in die Schuhe krochen. Er meinte, sie versuchen in die Zehen zu beißen und scheitern wegen der Stahlkappen. Dann die Waden, aber die Schutzanzüge unter Tage sind dick. Sie bekommen einen an den Knöcheln, weil die Socken nur aus Baumwolle sind. Da spürt man sie, wie sie knabbern und der Haut immer näher kommen.

Die erste Ratte, die ich sah, saß auf Sabine Weihs Schulter. Sabine Weih war ein Punk und wir lernten uns, beim Bier trinken, im Jugendzentrum kennen. Ihre Eltern hatten ihr drei verschiedene Paar Doc-Martens, eine dicke Lederjacke und eben zwei Ratten gekauft, dafür rasierte sie nur die eine Seite ihres Kopfes, konnte die Stelle also mit ihrem langen Haar überdecken, und trug nur ein Septum und ein Piercing an der Lippe. Tattoos hatte niemand von uns, dafür waren wir zu jung.

Ich weiß nicht mehr, wie die Ratten von Sabine Weih hießen, aber wie sie aussahen und sich anfühlten. Eine war schwarz und sehr zutraulich. Wenn ich Sabine Weih umarmte, kletterte die Ratte auf meine Schulter und versuchte in meinen Mantel zu kriechen. Sie knabberte nicht, stattdessen spürte ich ihre Füße, die versuchten auf meiner Haut Halt zu finden.

Die andere Ratte war weiß und sehr schüchtern. Ihr Fell fühlte sich an wie mein Haar, sehr weich und dünn. Ich mochte beide.

Ich erzählte meinem Vater von den Ratten und wie sie in meinen Mantel gekrochen sind und er schüttelte sich. Ich erzählte ihm von Sabine Weih und er sagte mir ihre Eltern seien Rattenfänger. Er wusste das, weil er sie kannte. Der Vater war Gewerkschaftsvorsitzender in der Gewerkschaft meines Vaters. Mein Vater nannte die Gewerkschaftler oft Rattenfänger, auch Politiker, vor allem die, die abends in den Talkshows auftraten. Er erzählte mir von einer Demonstration in Saarbrücken, bei der Herr Weih gesprochen hatte. Wie laut und eindringlich und überzeugend er war. Wie er und seine Kollegen laut und wütend wurden. Er sagte, dass er in diesem Moment nach Berlin marschiert wäre, wenn Herr Weih das gewollt hätte, um für die Bergwerke zu kämpfen. Und, dass er, als sie dann aber im Bus nach Hause saßen, Angst bekommen hätte und seine Kollegen auch. Mein Vater hatte sonst nie Angst.

Danach hatte ich etwas Angst vor Sabine Weih. Aber nicht vor ihren Ratten, die auf meiner Haut immer warm waren, während sie meine Wärme suchten.

Kurz darauf musste ich mit meiner Mutter ins Elterngespräch. Es ging darum, ob ich meine jetzige Klasse wiederholen müsse und entscheidend dafür war meine damalige Englischlehrerin. Das alte, rissige Backsteingebäude war mir damals sehr unheilvoll und kalt vorgekommen. Ich hatte beim Haupteingang immer etwas Angst, dass das alte Kreuz, das so massiv und schwer auf dem Dach stand, irgendwann einmal runter kommen und mich unter sich begraben würde.

Ich führte meine Mutter durch den Nebeneingang und über den Schulhof zu meinem Klassenzimmer, das mitten im Park der Schule lag. Ich glaube meine Mutter war damals genau so nervös wie ich. Sie mochte es nicht, an die Schule zu kommen. Es erinnerte sie immer an ihre Kindheit. Und sie sagte, sie könne mit den Lehrern nicht reden.

Wir haben lange im Gang gewartet, wo Stühle für uns bereit standen. Wir waren wahrscheinlich die letzten, weil niemand kam, während wir da saßen. Aus meinem Klassenzimmer haben wir Lachen gehört. Ich wollte gerne aufstehen und ein paar Schritte im Gang machen, aber meine Mutter bat mich, ruhig zu sitzen. Ich schaute also aus dem großen Fenster am Ende des Ganges und sah die Bäume ganz langsam im Wind schaukeln. Die Blätter waren rot und gelb und ein paar der Bäume warfen einen Schatten durch das Fenster in unsere Richtung. Ich konnte sehen, wie der Schatten langsam länger wurde und dabei auch hin und her schaukelte. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und wusste damals nicht warum.

Als sich dann die Tür öffnete, verließ ein anderes Kind mit seiner Mutter den Raum. Sie sahen beide anders aus, als wir. Er trug ein schickes Hemd und darüber einen dunklen Mantel, seine Mutter einen großen, hellen Mantel. Sie hatte ein feines Tuch um ihren Hals, auf dem ihre Ohrringe fast lagen. Neben ihnen, mit dem Türgriff in der Hand, stand die Lehrerin. Sie war sehr grau. Ihr Haar war ein fahles blond und ihre Bluse ein gelbliches weiß, so wie der Rock, der aus etwas festerem Stoff war. Sie lachte noch einmal kurz mit der anderen Mutter und wünschte ihr eine gute Heimreise. Die beiden schauten uns nicht an als sie an uns vorbeigingen. Dann sah die Lehrerin uns und nickte meiner Mutter zu. Ihr Blick hatte sich verändert, war strenger geworden. Meine Mutter und ich nahmen unsere Anoraks vom Schoss und folgte ihr durch die Tür. Ich weiß noch, dass meine Mutter eine rosa Bluse anhatte, die sie immer in solchen Situationen anzog. Ich hatte ein Hemd an, dass mir viel zu weit war, weil ich im letzten Jahr einige Kilo abgenommen hatte.

Ich erinnere mich nicht mehr so gut an das, was im Klassenzimmer passiert ist. Ich weiß noch, dass die Lehrerin mich nicht angesprochen hat. Ich habe an ihr vorbei aus den Fenstern gesehen und sie hat meinen Blick nicht gesucht. Meine Mutter hat ein paar Mal geredet. „Wenn Sie das so sagen.“ „Wenn Sie das für das Beste halten.“ Ein paar Mal habe ich gemerkt, wie die Lehrerin mich dumm genannt hat. Meine Mutter fragte, ob es nicht besser wäre, wenn ich draußen warte. Die Lehrerin meinte, dass es schon richtig wäre, wenn ich alles höre. Ich habe aber nicht zugehört, sondern den Innenhof der Schule beobachtet, den man von hier aus sehen konnte. Zwischen den Bäumen liefen andere Eltern mit ihren Kindern, die auch aus Gesprächen kamen. Ich wusste von einem Jungen, dass er nicht richtig lesen konnte, denn er war in meiner Klasse. Wenn er vorlas, klang er wie ein Grundschüler. Ich sah ihn und seinen Vater, wie sie aus dem Gebäude über den Hof kamen. Beide hatten ein Lächeln im Gesicht, beide hatten dicke, schwarze Mäntel. Meine Mutter bat die Lehrerin um etwas, aber ich wusste nicht was, weil ich nicht richtig aufgepasst hatte. Die Lehrerin lachte, aber anders als vorhin, und sagte nein.

Die Lehrerin stand nicht noch einmal auf, um uns zur Tür zu bringen. Sie gab auch nur meiner Mutter zum Abschied die Hand. Wir gingen sehr still über den Hof und zurück zum Auto. Später einmal erzählte sie mir, dass sie es hasste Bittstellerin zu sein. Sie schämt sich dann. In dem Moment war sie wütend. Auf dem Weg nach Hause fragte sie mich viel. Ich antwortete immer mit ja und schaute aus dem Fenster. Sah die Häuser an uns vorbeiziehen. Ich hörte nicht zu, bzw. wusste ich nicht, wie ich zuhören sollte. Sie stellte mir Fragen, die ich noch nicht beantworten konnte. Irgendwann kamen dann die Bäume und der Wald begann. Da wusste ich, dass wir bald Zuhause sein würden.

Als wir ankamen ging meine Mutter in ihr Schlafzimmer und ich setzte mich auf den Balkon. Auf dem Balkon stand ein Tisch in der Mitte und zu jeder Seite ein Stuhl, die aber nicht Richtung Tisch zeigten, sondern auf den Wald hinter unserem Haus. Ich dachte es wäre niemand sonst da und setzte mich, um mir den Wald anzuschauen. Ich sah, wie die Bäume sich langsam von rechts nach links und wieder zurück dehnten. Es flogen Blätter durch die Luft in kleinen Wirbeln. Die Sonne war fast untergegangen, als mein Vater zu mir, auf den Balkon, kam. Er war kleiner als ich, aber dafür um einiges breiter. Sein Körper bestand nicht aus Fett, sondern Muskeln. Den selben Körperbau hatten auch mein Großvater. Er setzte sich auf den Stuhl an der anderen Seite des Tisches. Wir schauten uns jetzt beide den Wald an, der wegen der untergehenden Sonne fast komplett dunkel war. Mein Vater war ein stiller Mann und ich hörte nur, wie er sich eine Zigarette anzündete. Dann spürte ich, wie er seine große Hand nach mir streckte. Er öffnete sie und legte seine Zigaretten und ein Feuerzeug in meine Richtung. Ich sah ihn zuerst fragend an, aber er hatte mir sein Gesicht nicht zugewandt. Also nahm ich mir die Zigaretten und zündete eine an.

„Deine Mama weint?“

Ich spürte, dass das keine Frage war, aber machte trotzdem ein zustimmendes Geräusch. Wir schwiegen wieder für eine ganze Weile. Irgendwann machte mein Vater seine Zigarette aus. Er aschte nie ab und die Asche fiel ihm auch nie auf den Schoss, da seine Hände unglaublich ruhig waren. Er nahm sich eine neue Zigarette und legte die Packung wieder in meiner Richtung ab, also griff ich wieder zu.

„Ich hab dir ja schon mal von den Ratten Untertage erzählt. Da meinte ich, das Schlimmste ist, wenn die dir in die Schuhe rein kommen. Ist es aber gar nicht. Die kann man vielleicht noch wegtreten oder so, wenn man da schnell genug ist. Die lernen auch nix, die versuchen das einfach immer wieder und es klappt nicht. Am Schlimmsten sind die, die lernen. Wir haben den Strom über dicke Kabel verlegt, für die Lampen an der Decke. Ein paar von denen klettern dann an den Kabeln nach oben. Die hängen kopfüber an der Decke und warten, bis einer unten vorbeikommt und dann lassen die sich fallen und landen direkt in den Kapuzen. Da wollen die rein, weil sie dann besser ans Pausenbrot ran kommen. Und wenn sie keins finden, dann beißen sie dir ins Ohr. Die kriegen jeden, ob normaler Hauer oder Steiger, das ist denen egal. Und die sind überall, wo Kabel an den Decken sind oder Rohre.“

Dann schwieg mein Vater wieder und machte seine Zigarette aus. Er stand auf und nahm seine Packung mit den Zigaretten. Eine davon nahm er heraus und legte sie zusammen mit dem Feuerzeug neben mich, bevor er rein ging. Ich zündete sie mir an. Mittlerweile sah ich den Wald nicht mehr, weil es zu dunkel war. Ich hörte nur noch die Blätter, die im Wind aneinander schlugen. In der Küche hörte ich meine Mutter, die gerade noch mal etwas Kaffee aufsetzte. Sie hatte im Auto gemeint, dass sie an dem Abend noch mal mit mir über die Schule reden werde. Ich wusste, dass es kein angenehmes Gespräch werden würde. Ich wusste, dass wir uns streiten würden. An das genaue Gespräch erinnere mich aber nicht mehr. Genaues Erinnern fing erst später wieder an.

VITA

Jan Thul wurde 1992 in Neunkirchen(Saar) geboren. Er studierte Kreatives und Literarisches Schreiben in Hildesheim. Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien und Zeitschriften, darunter Freie Fälle, Landpartie und Saarbrücker Hefte. Finalist beim 29. Open Mike, Stipendiat des Klagenfurter Literaturkurs 2022 und Gewinner des Hans-Bernhard-Schiff-Preises 2023. Seit 2024 ist er Teil des WeeklyGeek Teams und informiert zu politischen Themen rund um deutschsprachiges Pen und Paper auf Twitch, YouTube und Instagram.

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