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Gurbet Yasemin Şen gewinnt
Schreibhain-Stipendium

Wir freuen uns ungemein, dass der Wettbewerb um unser Schreibhain-Stipendium im Jubiläumsjahrgang XXI auf eure Resonanz gestoßen ist! Wir bedanken uns für eure Teilnahme, die sorgsam ausgewählten Texte und das Vertrauen in unsere Juryarbeit. Auf unserer Shortlist standen zuletzt noch drei Titel (nach Alphabet sortiert):

Gemperle, Corin: Atemluft (Auszug aus dem Roman)

Gurbet, Yasemin Şen: Ungelesen

Weise, Cäcilie: Warmes Fleisch

Die Schreibhain-Jury beglückwünscht alle Shortlistnominierten von Herzen. Eure Texte hat die Jury wieder und wieder gelesen, sie miteinander diskutiert und nun dürfen wir unsere neue Stipendiatin im Jahrgang XXI endlich bekanntgeben:

Trommelwirbel und Applaus für Yasemin Sen Gurbet: „ Ungelesen“.

In der Jurybegründung heißt es:

„Gurbets erzählerische Methode ist die der Dichotomie, die sowohl in der Figur als auch in der Erzählung selbst angelegt sind. Da sind die langsam ans Licht drängenden bruchstückhaften Erinnerungen an Gewalterfahrung in der eigenen Familie und die Flucht in Vorstellungswelten, der sich die Protagonistin hingibt, wohl um dem eigenen Gedankenkarussell zu entkommen. Es kann dies der Ich-Erzählerin nicht gelingen, die traumatischen Erlebnisse holen sie in den eigenen Fantasien über ein vermeintliches Glück ein. Die Möglichkeit echter Bindung schimmert in der Lebenswirklichkeit der Klinik auf. Die Jury zeichnet „Ungelesen“ mit dem Schreibhain-Stipendium im Jahrgang XXI aus.  Gurbet bildet ebenjene inhaltliche Dichotomie auch sprachlich gekonnt nach. Comicartige Einwürfe, ironische Brechungen und Zitate aus der Popkultur stehen dem Schmerz und dem Zugang zur Innenwelt der Protagonistin diametral gegenüber und bedingen sich zugleich. Gurbet beeindruckt mit Sprach- und Rhythmusgefühl und lässt einen Willen zur Form erkennen.  

Hier lest ihr den prämierten Text:

Ungelesen

Sein Foto ist irgendwie süß. Er hat etwas Verletzliches, wie er so auf der Wiese im Volkspark sitzt. Seine Haare sind ein bisschen kürzer als meine. Bewölken voluminös seine Ohren. Meine umrahmen regenglatt mein Gesicht. Er sieht einsam aus auf dem Foto, welches auf meinem Handy darauf wartet, dass ich wische. In mein Leben hinein oder aus dem Handy heraus. Ich klicke nochmal auf sein Profil.

‚Swipe nach rechts und ich zeig dir mein Berlin! Keinen Bock auf lahme Dates und Smalltalk. Stadtführung 2.0, versprochen.‘

Seine Worte reizen und ängstigen mich gleichermaßen. Was, wenn dein Berlin nichts mit meinem zu tun hat? Oder schlimmer. Was, wenn mein und dein Berlin alles miteinander zu tun haben?

Mein Daumen schwebt über dem Display. Ist doch auch komisch, dass er nur ein Foto hat, oder? Eins mit Selbstauslöser.

Hast du keine Freunde, Freddy?

Wer heißt schon Freddy?

Draußen vor dem Fenster meiner Zelle zwitschert wieder dieser dämliche fette Vogel. Immer in gleichem Abstand und Rhythmus. Hätte ich einen Vater, hätte er mir ne Steinschleuder geschenkt. Mein Daumen wartet immer noch darauf, dass mein Hirn was entscheidet. Und dann passiert etwas und es regnet Herzen aus meinem Screen. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich das Handy fallen lasse. Hebe es auf. Fluche viele Flüche, die ich nie zu anderen sagen würde. Untersuche die Ecken. Nix gesprungen – außer Herzen.

Mein Gesicht entsperrt.

‚Freddy und du haben ein Match.‘

Während ich mir mein Profil anschaue, weil ich finden will, was Freddy gefunden hat:

Push-Nachricht. In meinen Kopf ein Fetzen aus einem Song. ‚The edge, the edge, THE EDGE!!!!!‘ Wie heißt das Lied nochmal? Lieber weiterhin angespannt mein Profil anstarren, statt seine Nachricht zu lesen.

‚Ich weiß nicht so richtig, was ich suche, aber finden wäre schön.‘

Fand das geheimnisvoll und poetisch, als ich mich angemeldet hab. Jetzt finde ich es bescheuert.

Aber Freddy mags. Vielleicht.

Als es an der Tür klopft, stopfe ich das Handy unter mein Kopfkissen.

Frau Dr. Heidekamp öffnet die Tür und lächelt ihr immer gleiches Lächeln. Sogar wenn sie spricht, verändert sich nichts. Statue. Jedes Mal, wenn ich sie sehe, frage ich mich, ob sie das üben musste oder so geboren ist.

„Guten Morgen.“ Steinerne Gelassenheit. „Ich wollte dich zur Sitzung abholen oder brauchst du noch einen Moment für dich?“

Ich stehe auf und schaue kurz in den Spiegel. Sehe ein Lächeln. Gut.

Freddy und seine ungelesene Nachricht bleiben in meinem Zimmer. Nur den Gedanken daran nehme ich mit. Während ich im langen Flur hinter ihr herlaufe, zähle ich die Schritte. Es sind, seitdem ich hier wohne, immer 42. Alle sind schon da und sitzen im Kreis. Warten. Auf mich. Noch tiefer in mein Gesicht kann ich die Kapuze nicht ziehen, schiele auf die Uhr. Fünf Minuten zu spät. Deshalb hat sie mich abholen müssen. Ich setze mich auf den einzigen leeren Platz. Neben Mike.

„Hallo ihr Lieben, wer möchte denn heute beginnen, seine Stimmung auf der Gefühlsübersicht anzugeben und ein paar Worte dazu zu sagen?“

Nur das Ticken der Uhr antwortet ihr. Sie wartet und hält steinern das Plakat hoch, auf dem verschiedene Smileys zu sehen sind.

Ich mag den einen. Den mit so einem halben Melonenscheibenmund und einem unsichtbaren Messer hinter dem Rücken.

Tick,                                                              Tick

Tick,                                                                                          Tick

Tick…

… Marie erbarmt sich als erste. Sie hält das nie aus. Andere sind ihr wichtiger als sie selbst, glaube ich.

Deswegen wählt sie auch den grinsenden Smiley und erzählt, dass es ihr besser geht.  Gut fühle sie sich heute. Die Flussbetten in ihrem Make-up zeigen, dass sie lügt.

Alle außer Mike erzählen was zu den Smileys und sich selbst. Er redet nie. Niemand weiß, wie seine Stimme klingt.

Ich versuche witzig zu sein, stammele deswegen. „Ich mag den da. Den der so irre aussieht.“ Zeige auf den WassermelonenMundSmiley. „Keiner weiß, wie es ihm wirklich geht. Oder was er vorhat. Also was er plant.“

Marie lacht. Nett von ihr.

Die Anderen erzählen jetzt auch von ihren Gefühlen und zeigen auf Smileys. Ich schaue zu, wie ein Mariechenkäfer an Mikes Schnürsenkel herumklettert. Fünf Punkte.

Das heißt, der is fünf Jahre alt! Höre ich die Nachbarskinder aus dem Hof, als wäre es gestern gewesen.

Ich frage mich heute noch, ob das stimmen kann. Wie alt werden Mariechenkäfer?

Mike bemerkt ihn nicht. Ich habe ein bisschen Angst vor ihm und überlege noch, ob ich was sagen soll, als eine unerwartete Bewegung auf seinen Schuh zeigt. Mikes Blick folgt der imaginären Verlängerung meines Fingers. Etwas leuchtet in seinem Gesicht auf und ich denke an Freddys Augen.

Mike bückt sich zu seinem Schuh und lässt den Käfer auf seinen Daumen krabbeln. Die fünf Punkte bewegen sich auf seiner Handfläche, die er immer wieder dreht, damit sein neuer Freund nicht runterfällt. Oder Freundin.

Haben Marienchenkäfer ein Geschlecht?

Dr. Heidekamp beobachtet Mike. Ich auch. So viel Zärtlichkeit hatte ich ihm nicht zugetraut. Sie macht sich Notizen. Ihr Gesicht bröckelt ein bisschen.

Das Wetter wird gut sein für ein erstes Date.

„Hi Freddy!“ Natürlich sieht er genauso aus wie auf seinem Foto. Ich möchte seine braunen Locken anfassen. Das darf man aber nicht einfach so.

„Hey. Voll schön dich kennenzulernen.“ Er grinst. Ich schmelze.

„Wollen wir anfangen mit unserer Stadtführung 2.0?“

„Ich weiß gar nicht so genau, was das bedeuten soll?“ antworte ich und traue mich nicht mehr ihn richtig anzuschauen.

„Naja, du hast geschrieben, dass du auch Berlinerin bist, oder?“ Ich nicke. „Na dann latschen wir jetzt durch die Stadt, zeigen uns gegenseitig Orte aus unserer Vergangenheit oder Gegenwart und erzählen uns was dazu. Da lernt man sich dann wirklich gut kennen, denk ich.“

„Ok!“ sage ich und versuche so selbstbewusst, wie er zu klingen. Wir steigen in einen Bus fahren zum Schloßpark. Während wir durch den Park laufen, zeigt Freddy auf eine Ecke unter einer Brücke und erzählt mir, dass er da das erste Mal gekifft hat. Er war so breit gewesen, dass er in dem Busch daneben eingepennt und mit lauter Ameisen überall auf seinem Körper aufgewacht ist. Er lacht. „Du hättest sehen müssen, wie ich mich ausgezogen hab und in Boxershorts rumgehüpft bin.“ Er hält sich den Bauch vor Lachen. Ich lache auch, finde es zauberhaft, wie seine Locken hüpfen.

Zwanzig Minuten Spaziergang später, kommen wir an einem Kinderspielplatz an und setzen uns auf eine Bank. Freddy wirkt plötzlich verlegen.

„Joa, also hier hab ich dann meine Unschuld verloren.“

„Auf dem Spielplatz?!“ Meine Verwirrung amüsiert ihn. „Ja, wir haben uns nachts hier mit Freunden getroffen. Die Parkwächter haben hier selten nachgesehen. Man darf ja nachts eigentlich gar nicht hier sein. Naja, und da war dann an einem Abend dieses Mädchen. So kam eins zum anderen. Da unten unter dem Klettergerüst.“ Er grinst und zählt die Sandkörner unter unseren Füßen. Ich vergleiche das rosa seiner Wangen mit dem Himmel.

Während ich mir das Gerüst anschaue, erzähle ihm nicht, dass ich in dem ganzen Park hier, in ganz Berlin und wahrscheinlich auf der ganzen Welt Jungfrau geblieben bin. Auch ungeküsst. Aber das erzähl ich doppelt nicht.

Wir steigen am U-Bahnhof Gneisenaustraße aus und er führt mich ein Stück weiter. „Hier hab ich letztes Jahr Abi gemacht.“, sagt er und zeigt auf einen weißen Altbau mit einen riesigen Sportplatz gegenüber. Als wir später auch an meiner Schule vorbeilaufen, erzähle ich ihm nicht, von meiner Schulzeit. Nicht, wie die Kinder sich die Nase zugehalten haben, wenn ich kam, nachdem er mich einmal abgeholt hat. Einmal hat gereicht, um seinen Geruch in der Schule zu hinterlassen. Ich erzähle Freddy nicht, dass er nur selten so gerochen hat. Aber einmal hat gereicht. Die Lehrerin hat gefragt, ob mein Vater oft trinkt. Ob sie mit meiner Mutter reden soll. Ihr wars so unangenehm, wie mir, glaube ich. Anstatt Freddy zu erzählen, wie ich Fr. Lange angelogen hab, schweige ich lieber, während er mir seine Lieblingsdönerbude zeigt.

„Nicht weit von hier habe ich gewohnt“, sage ich, nachdem wir uns ein Eis geholt haben.  „Mit meinen Eltern und meinen zwei Geschwistern“. Das Bitzeln der Zitrone auf meiner Zunge schmeckt nach zu Hause.

„Zeig mir dein altes Haus!“, sagt er freudig und fragt nicht, warum ich da nicht mehr wohne. Wir laufen durch die Wrangelstraße und ich zeige auf das Haus, ohne zu erzählen, wie er mir einmal den Arm gebrochen hat. Mama hat dem Arzt gesagt, dass ich hingefallen wäre. Tollpatschiges Kind.

Wir gehen hoch in den zweiten Stock. Der Name meiner Eltern steht noch an der Tür. Wir brechen ein. Nachdem Freddy die Tür mit seinem Führerschein und meiner Haarklammer geöffnet hat, stehen wir im Flur. Nur der Geruch meiner Familie ist da sonst keiner. Es riecht nach Zitronenparfum. Zaghaft nehme ich Freddys Hand und führe ihn in mein Zimmer. Sie ist warm und weich. Macht mich mutig. Alles sieht genauso aus wie vor einem Jahr. An der Wand hängt ein Poster von Beyoncè, meine Kaktuslampe steht immer noch neben dem Bett und der Teppich mit den flauschigen Fransen umschließt unsere Schuhe.

„Das ist das Bett, aus dem ich irgendwann nicht mehr aufstehen konnte. Ich hatte tote Schmetterlinge im Bauch, deren Phantomflügel in meinen Augenwinkeln zuckten. Der Arzt hat gesagt, dass ich Hilfe brauche und die Frau vom Jugendamt geholt. Ich glaube ich war Wochen in dem Bett da.“ Ich berühre die Decke, die seit einem Jahr auf meinem Bett liegt.

„In mein Zimmer kam er nie. Das fand er unanständig, bei einem jungen Mädchen.

Hier hat er mir gezeigt, dass es keinen Gott geben kann, Freddy. An dem Tag, als die mich abgeholt haben, habe ich alles verloren. Meine Mutter, meine Geschwister, Gott und meinen Verstand. Aber davon habe ich wenigstens Teile wiedergefunden.“

Freddy umarmt mich und seine Locken bewölken kurz meinen Kopf. Meine Haare regnen auf seine Brust und seinen Bauch. Wir stehen in meinem alten Kinderzimmer und er schiebt mich ein Stück von sich weg, um mich anschauen zu können. Sein Mund sieht weich und rosig aus, ist ein wenig geöffnet. Ich spüre seinen Atem auf meiner Wange…

Knock, Knock, Knocking on

Ich öffne die Augen. Der Song spielt in meinen Kopf weiter. Das Klopfen gibt den Rhythmus an. Bevor ich reagieren kann, geht die Tür auf. Mike steht im Türrahmen und lächelt. Daran habe ich mich noch nicht gewöhnt. Er hat den Therapie-Hasen auf dem Arm, den die Heidekamp für ihn besorgt hat. Ich frage mich, ob der Hase und sie Studienkollegen sind. Mike streichelt sanft mit einem Finger über den Kopf des Kaninchens und macht eine Kopfbewegung, die „Los komm!“ heißt. „Lass uns rausgehen mit Bugs.“ Ja, Bugs, so heißt der Hase. Geniestreich. Keine Ahnung von wem. Ich schaue nochmal auf mein Handy, das ich fest umklammert in der Hand halte.

Dein Match wurde aufgelöst.

Ich frage mich, was wohl in dieser einen Nachricht stand, die Freddy mir vor ner Woche geschickt hat. Ob er wirklich aussieht wie auf den Fotos? Ich hätte ihm gern von Bugs erzählt.

Mike stößt ungeduldig mit dem Fuß gegen meine Tür. Reden will er immer noch nicht, aber seitdem er Bugs hat, lächelt er wenigstens hin und wieder. Ich werfe das Handy aufs Bett und folge ihm in den Garten. Wir setzen uns ins Gras und schauen Bugs zu wie er einen Grashalm nach dem anderen futtert. Manchmal halten wir ihm ein Blümchen hin und Mikes Hand findet meine Hand. Ohne zu suchen.

Vita

Yasemin Şen Gurbet verschlang schon als Kleinkind türkische wie deutsche Märchen und Erzählungen. Mit ihrer Mutter hat sie gelesen, mit ihrem Vater Bücher besprochen. Später auch mit ihm gemeinsam korrigiert, redigiert und an Selbstgeschriebenem weitergearbeitet. Ihr erstes Gedicht schrieb sie im Alter von sieben Jahren. Bis heute verwahrt sie es in ihren Unterlagen.

Gurbet nahm an zwei Poetry-Slams teil und belegte dabei jeweils den ersten Platz. Sie wurde vom Projekt Daughters and Sons of Gastarbeiters eingeladen, eine ihrer Geschichten in deren Lesereihe zu präsentieren. Beim Autorenforum Berlin las sie im Rahmen der Langen Buchnacht. Eines ihrer Gedichte wurde bereits in einer Anthologie veröffentlicht.

Derzeit schreibt Gurbet an ihrem ersten Roman über Migrationserfahrungen und die zahlreichen Facetten deutsch-türkischen Lebens in Berlin. Sie arbeitet  an einer Novelle über KI und menschliche Beziehungen.

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