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Eine Venedig-Miniatur

Schon mit deiner Ankunft tauchst du ein ins Märchen. Auf wankendem Grund stehst du, die erste Februarsonne wärmt dein Gesicht und zeigt den aufkommenden venezianischen Mittag an. Ein Motorengeräusch kündigt von der Ankunft des Vaporettos, das am Steg vertäut werden wird. In seinem Bauch gelangst du und die anderen Reisenden in die Lagunenstadt. Neben dir nimmt eine kostümierte Dame Platz. Sie trägt ein barockes Kleid, Spitze reiht sich an Spitze, dazu eine nachtblaue Halbmaske. Ein erster Vorgeschmack auf den venezianischen Karneval. Du weißt nichts über die Kostümierte, was sie aus Deutschland hierhergezogen hat, nicht einmal deine eigenen Motive hast du ergründet. Das erste Mal nach über zwanzig Jahren wirst du den Fuß auf jenen Landstrich setzen, der, strenggenommen, eine Viele ist – Stückwerk, verbunden über Brücken.

Als Venedig von Rialto aus zu sehen ist, hüllt dich sein schwebender Zauber ein. Die Zeit steht still, während die Welt da draußen weitertickt, in gewohntem Rhythmus. Hier verharrt sie im Augenblick, eine kleine Ewigkeit dauernder Magie.

In den nächsten Tagen verschlucken dich jene Gassen, die von den großen Plätzen abgehen. Du verläufst dich und es ängstigt dich nicht. Niemand stellt die Sinnfrage. In Venedig kommst du erst an, wenn du verloren gehst – in einer Bar, die sich plötzlich vor dir auftut, du hast sie nicht gesucht. Vor der barocken Kirche, deren Namen du vergessen hast, und an deren Mauer ein Herr lehnt, sein Mantel von demselben Grün wie die Pforte neben ihm. Nicht der Zufall hat ihn hiergeführt, sondern dieser Morgen und sein Licht. Er ist seinem Ruf gefolgt und du steht still und schaust ihn an, über Dir kreisen die Möwen.

Einen Augenblick später verlässt du den Platz und hinter einer schmalen Gasse gelangst du auf eine Brücke, die den Blick über den moosgrünen Kanal freigibt.

Auf einem Flohmarkt wirst du eine Kreidezeichnung erstehen. Darauf zu sehen ist eine – von einem zart schimmernden Cape einmal abgesehen – unbekleidete junge Frau. An eine Säule gelehnt, liest sie in einem Buch. Ihre Wangen gerötet, ihre Augen fest auf die Schrift geheftet, ist sie dein Inbegriff von Versuchung, Verführung und Schönheit.

Schönheit und Kunst, hörst du später über deinen Audioguide, während du durch den Garten des Guggenheims Museums schlenderst, seien stets untrennbar miteinander verbunden. Alle Kunst entstamme dem Staunen über die Schönheit. Wann immer Kunst hässlich sei, beklage sie die Abwesenheit ihrer Geliebten. Venedig als letztgültiger Beweis dieser These, denkst du, dein Audioguide ist schon ganz woanders angelangt.

 

Verloren gehst du in einer  Stadt, die in zeitlichen Begriffen zu fassen wäre, in historischen Abrissen, Dokumenten, Chroniken, sich vor dir aber erst entblättert, als du nichts mehr von ihr zu begreifen erhoffst. Stehen und schauen, sprachlos . Abhandenkommen, wanken und dich daran erfreuen, kein Wissen für ewig erklären, dich dem Augenblick überantworten.

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